James Salter, das eisgraue Haar dicht und kurzgeschnitten, mustert das Publikum mit eindringlichem Blick. Vor ihm, auf dem Stehpult liegt sein neuer Roman. Mehr als 250 Menschen sitzen im Garten der Hampton Library auf Long Island, vor den Toren New Yorks. "Die Hauptfigur, Philip Bowman", erklärt der Autor knapp, "hat eine Affäre mit einer verheirateten Frau." Dann setzt er seine Brille auf und beginnt zu lesen. Die Hauptfigur ist ein Amerikaner, der am frühen Morgen in einem Hotelzimmer in Sevilla erwacht. Nach dem Gang ins Bad kehrt er zum Bett zurück. "Sie schlief noch immer, fast ohne zu atmen, wie ihm schien. Er sah sie voller Staunen an. Während er neben ihr stand, fand ihre Hand langsam aus den Laken, tastete nach ihm, zog dann das Handtuch weg und schloss sich sachte um sein Glied. Sie lag da, mit ruhigem Blick, ohne ein Wort. Er begann anzuschwellen. Ein kleiner, transparenter Tropfen fiel auf ihre Haut, sie hob das Handgelenk und leckte ihn auf. 'Ich habe den falschen Mann geheiratet', sagte sie." Einige Männer grinsen. Ein paar Frauen verziehen das Gesicht, als würden auch sie ihre Ehe bereuen.
Geduldig stehen die Fans in einer Schlange, um sich ein Buch vom Autor persönlich signieren zu lassen. 13 Jahre haben sie warten müssen, denn so lange hat es gedauert, von den ersten Notizen bis zu "Alles, was ist", Salters neuem Roman, der von der amerikanischen Presse hymnisch gefeiert wird. Der Autor gehört zu den großen amerikanischen Erzählern, in einer Spielklasse mit Philip Roth und John Updike. Er ist ein "Writer's writer", der von den Kollegen bewundert wird und eine ganze Generation von Schriftstellern geprägt hat. Richard Ford nennt ihn schlicht "den Meister". Und John Irving lässt Dr. Daruwalla, seinen Helden in "Zirkuskind" sichtliches Vergnügen an einer erotischen Szene aus Salters Roman "Ein Spiel und ein Zeitvertreib" haben. "Jeder Schriftsteller", schrieb Irving später in einer Rezension zu Salters Memoiren "Verbrannte Tage", "wird sich klein fühlen angesichts Salters großartiger Sprache."
Der typische Salter-Sound
Auch sein neues Buch hat wieder diesen typischen Salter-Sound: unsentimental. Sinnlich, mit einem starken Sog, der einen immer tiefer in die Geschichte zieht. Die beginnt am Ende des Zweiten Weltkriegs, wo er als junger Marineoffizier im Pazifik die letzten Angriffe der Japaner überlebt, sich dann als Lektor in den literarischen Kreisen des intellektuellen New York bewegt und endet im Heute, an der amerikanischen Ostküste auf Long Island. "Bowman", sagt Salter, "durchlebt eine lange Zeitspanne. Eine Zeitperiode, die mich interessiert, denn in diesen Jahrzehnten bin ich selbst verwurzelt."
Salter hat keinen historischen Roman geschrieben, sondern ein intimes Epos über das Leben, so wie es Philip Bowman sieht. "Toda" lautete der ursprüngliche Arbeitstitel. Gestoßen war der Autor auf das Wort in Victor Hugos Tagebüchern. Hugo benutzte es als Code für amouröse Details: für Küsse, für Zärtlichkeiten oberhalb und unterhalb der Taille - und schließlich schrieb er "Toda", was auf Spanisch "alles" heißt. "Dieses Wort", sagt Salter, "umschreibt meinen Roman, allerdings in einem weiteren Sinn: Kein Leben ist wirklich vollkommen, wenn man nicht Liebe, Armut und Krieg erlebt hat."
Vom Jagdflieger zum Drehbuchautor
Den Krieg hat der Autor als Kampfpilot bei der US Airforce mitgemacht. Das war noch vor der Zeit der Düsenjets, Salter führte das Geschwader, als er mit seiner Fokker mehr als hundert Einsätze über Korea flog. In seinem Roman, betont er, schildere er Bowmans Erfahrungen, nicht seine. "Allerdings hätte ich sicherlich nicht das Selbstvertrauen gehabt, über Krieg zu schreiben, wenn ich nur in Büchern darüber gelesen hätte. Der Kampf ist ein tiefer Einschnitt im Leben. Es gibt einen Moment, wo du dein eigenes Blut schmeckst. Davor lebt man mit einer großen Unsicherheit und schrecklichen Angst. Danach spürt man vielleicht immer noch Angst, aber du weißt, dass du sie überwinden kann."
Es war immer Salters heimlicher Wunsch, Schriftsteller zu werden. Sein erstes Buch "The Hunters", ein Roman über Jagdflieger, wurde mit Robert Mitchum in der Hauptrolle verfilmt. Nach diesem Erfolg lässt der 32-Jährige seine militärische Karriere hinter sich. Geld verdient er zunächst als Drehbuchautor. Er erhält Preise, arbeitet mit Charlotte Rampling und Robert Redford. Mit dem Hollywoodstar, der die Hauptrolle in seinem verfilmten Buch "Downhill Racer" spielt, ist er seither befreundet. Im Frühjahr hielt Redford die Laudatio für den Hadada Preis, den die renommierte New Yorker Literaturzeitschrift "Paris Review" Salter für "Alles, was ist" verlieh.
"Alter ist eine Frage der Haltung"
Im Roman bewegt sich Bowman als Lektor in literarischen Kreisen des intellektuellen New York. Er heiratet, er lässt sich scheiden, es folgen edle Dinnerpartys, Geliebte und jähe Abschiede. Bowman ist ein Genussmensch. Es gibt eine Zeit, da hat er ein unstillbares Verlangen, er stolpert in unzählige Affären. Die Passagen von Momenten des erotischen Glücks sind leidenschaftlich und berühren. Er messe dem Sex nicht mehr Bedeutung bei als andere Männer auch, behauptet Salter. "Ich beschäftige mich in meinen Texten mit Erotik, weil Sex das Leben intensiv macht."
Mit seiner ersten Frau hat Salter vier Kinder. Neben und nach dieser Ehe, so ist seinen Memoiren zu entnehmen, schien es eine Menge Affären zu geben. Doch "das ist lange her," sagt er.
Inzwischen ist er 88, sein Körper ist schlank und noch immer muskulös. "Alter", sagt Salter, "ist eine Frage der Haltung." Im Sommer schwimmt er jeden Tag im atlantischen Ozean auf Long Island. Seit über drei Jahrzehnten lebt er dort mit seiner zweiten Frau Kay, Drehbuchautorin. Der gemeinsame Sohn ist inzwischen ausgezogen und studiert.
In seinem klapprigen Saab, Baujahr 1996, fährt Salter zum Gibson Beach, einer der Schauplätze seines Romans. Vor dem Auto nur das Meer. Der Strand verliert sich nach beiden Seiten in der Ferne. Hohe Wellen schlagen auf den Sand.
"Er glaubte an die Liebe, das hatte er immer getan", sagt Bowman im Roman als alter Mann. Salter blickt auf die Brandung. "Ein Leben ohne Liebe", sagt Salter, "ist nicht vorstellbar. Wenn man nicht liebt und nicht geliebt wurde, hat man das Wesentliche verpasst."