Das neue linke Lebensgefühl (Teil 6) "Gleiches Geld für alle!"

Die neue OECD-Studie belegt: Armut und Ungleichheit haben in Deutschland rasant zugenommen. Auch deshalb wirbt Christian Rickens in seinem Buch "Links! Comeback eines Lebensgefühls" für ein Grundeinkommen. Im Gespräch erklärt er, warum Arbeit wieder Spaß machen muss - und wieso die Globalisierung nicht nur ein Feind ist.

Weniger Staat und trotzdem links? Weniger Markt und trotzdem liberal? Kein Problem, sagt Christian Rickens. Sein Gegenprogramm zu den bekannten Konzepten der Linken wie Neoliberalen heißt Linksliberalismus. Kern ist ein bedingungsloses, aus Steuer finanziertes Grundeinkommen, das jedem Bundesbürger das Existenzminimum sichert. Eine romantische Spinnerei? Nicht für Rickens. Und er erklärt, wie es funktionieren könnte.

Eine aktuelle Studie der Organisation für Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) verleiht seinen Forderungen Brisanz. Die Studie belegt, dass Armut und Einkommensungleichheit in Deutschland in den vergangenen Jahren wesentlich schneller zugenommen haben als in fast allen anderen OECD-Ländern. Von 2000 bis 2005 lebten 10,5 bis 11 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsschwelle. Ein starkes Argument für die Grundsicherung.

Das heißt, dass man, wenn man über soziale Gerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit redet, sich nicht die Instrumente der Vor-Schröder-Ära zurückwünschen kann. Es ist keine Lösung zu sagen, wir wollen wieder zurück zur Arbeitslosenhilfe, die sich am früheren Einkommen orientiert und finanziert wird über die Beiträge der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber und die einseitig den Faktor Arbeit belastet. Das ist keine Lösung, die sich in irgendeiner Art mit einer globalisierten Wirtschaft verträgt, wo eben Arbeitskosten eine Rolle spielen.

Tobin-Steuer

Als Tobin-Steuer bezeichnet man eine bereits 1972 von James Tobin vorgeschlagene, aber bisher nicht eingeführte Steuer auf internationale Devisengeschäfte. Tobin wollte durch eine sehr niedrige Steuer auf sämtliche internationale Devisentransaktionen die kurzfristige Spekulation auf Währungsschwankungen eindämmen. Er hoffte, dadurch zu erreichen, dass die Wechselkurse von Währungen stärker die langfristigen realwirtschaftlichen Phänomene als die kurzfristigen spekulativen Erwartungen widerspiegeln.

Die Forderung nach der Besteuerung des Devisenhandels wurde 1997 in einem Artikel der Zeitung "Le Monde diplomatique" aufgegriffen, der zur Gründung der globalisierungskritischen Organisation Attac führte. Bis heute wird die Tobin-Steuer als eine der zentralen Forderungen der Globalisierungskritiker gesehen. (Quelle: Wikipedia)

Was aber sind die Instrumente, mit denen man die Globalisierung lenken kann? Lafontaine hat in seiner Zeit als Minister ja auch den Versuch unternommen, die Besteuerung von Devisentransaktionen durchzusetzen, und ist damit grandios gescheitert. Eine Gewinnsteuer ist ja auch nicht unbedingt ein gestriges Konzept...

Zur Tobin-Steuer habe ich selbst keine abschließende Meinung, ich habe auch keine Idee, wie man ein solches Konzept umsetzen kann. Ich weiß nur: Der Sozialstaat muss künftig aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert werden, um die Arbeit nicht einseitig zu belasten. Ein Grundeinkommen wäre für mich der wünschenswerte Endzustand. Da gibt es natürlich einige Zwischenschritte auf dem Weg dorthin. Vor allem müssen sämtliche Sozialstaatsinstrumente so konzipiert sein, dass sie materielle Anreize zur Arbeit bieten. Anders als heute, wo man aus Hartz IV nicht mehr rauskommt, weil es für alles, was man dazuverdient, eine Grenzbelastung von bis zu 80 Prozent gibt.

Koalitionsfreiheit

Als Koalitionsfreiheit bezeichnet man das Recht von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, sich zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zusammenzuschließen. Die Europäische Menschenrechtskonvention gewährt ausdrücklich das Recht, Gewerkschaften zu bilden (Art. 11 Ziff. 1), ebenso der Uno-Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Art. 22 Abs. 1.). (Quelle: Wikipedia)

Aber müssen für all diese Probleme nicht internationale Lösungen gefunden werden. Und ist es realistisch, auf gemeinsame, global gültige Sozial- und Umweltstandards zu hoffen?

Es macht keinen Sinn, dass Deutschland bei Sozial- und Umweltstandards allein vorangeht. Dafür sind wir viel zu stark verflochten mit unseren Nachbarländern. Mit der EU haben wir aber ein verhältnismäßig gut funktionierendes politisches Gremium, wo sich Fortschritte erzielen lassen. Auf internationaler Ebene plädiere ich dafür, dass man das Grundrecht auf Koalitionsfreiheit zu einem Bestandteil von Handelspolitik macht. Dass man also Länder, die dieses Recht nicht gewähren, mit entsprechenden Zöllen belegt. Ich bin dagegen zu sagen, chinesische Produkte bekommen eine Strafzoll, weil die Arbeiter dort keinen Helm tragen. Man sollte es schon den Menschen in China überlassen, unter welchen Bedingungen sie arbeiten. Das setzt aber auch voraus, dass den Menschen dort eine freie Willensbildung ermöglicht wird. Länder, in denen es keine freie Gewerkschaften gibt und in denen sich Menschen nicht frei organisieren können, betreiben Sozialdumping und dafür müssten sie im Welthandel eigentlich bestraft werden.

Wie sollen sich soziale und moralische gegen wirtschaftliche Interessen durchsetzen?

Man darf nicht vergessen, dass es ja auch ein massives wirtschaftliches Interesse für solche Anti-Sozialdumping-Zölle gibt. Es existiert durchaus eine starke Lobby, die für Öko- und Sozialstandards eintritt, nicht zuletzt die Gewerkschaften, die zumindest in Europa eine gewisse Macht haben. Ich glaube nicht an diese Sichtweise, "das Kapital regiert sowieso die Welt".

Viele Jobs, die mit harter körperlicher Arbeit verbunden sind, gehen ja durch Rationalisierungen verloren. Dagegen kann man als Linker doch nichts haben, oder?

Im Kern geht es um die Frage, wie Linke heutzutage Arbeit definieren. Da macht sich ja auch eine gewisse Nostalgie breit bei der Linkspartei oder in breiten Teilen der SPD, die diesen Arbeitsbegriff sehr stark überhöht: Der Mensch wird erst durch Arbeit zum Menschen. Das führt dazu, dass die Debatte über das Grundeinkommen von der SPD gar nicht geführt wird. Das ist die spannende Frage, ob es die Linke schafft, zu einem neuen Arbeitsbegriff zu kommen.

Aber besagen aktuelle Studien von Verhaltensökonomen nicht, dass sich der Mensch vor allem über die Arbeit definiert?

Bis jetzt heißt Arbeit ja Erwerbsarbeit, die am Markt erbracht wird, marktmäßig bezahlt wird, und dieses marktmäßig erwirtschaftete Arbeitseinkommen muss meinen Lebensstandard finanzieren. Für mich wäre es ein Fortschritt, wenn man den Gedanken verankern könnte, dass Arbeit selbst glücklich macht. Diese Arbeit kann in vielen Kontexten organisiert werden. Bürgerarbeit könnte zum Beispiel auch etwas sein, mit dem man sein Leben vielleicht nicht vollständig finanzieren, aber eine befriedigende selbständige Tätigkeit ausüben kann, von der man in Kombination mit einem Grundeinkommen auch leben kann. Warum soll ich denn, wenn ich ein Grundeinkommen von 800 Euro bekomme, nicht eine selbstständige Tätigkeit ausüben, die mir Spaß macht, auch wenn sie nur fünf Euro die Stunde einbringt? Entscheidend ist doch, dass ich Befriedigung in meiner Arbeit finde und hinterher einen angemessenen Lebensstandard habe.

Flexicurity

Das Konzept der Flexicurity (eine Zusammenziehung aus den englischen Begriffen "flexibility" und "security") soll für einen Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sorgen: Die "Flexibilisierung" der Arbeitsverhältnisse - sprich: Lockerung des Kündigungsschutzes - kommt den Arbeitgebern entgegen; die Arbeitnehmer wiederum sind in erster Linie an der Stabilität ihres Arbeitsplatzes interessiert. Flexicurity-Konzepte wurden erstmals in den 1990er Jahren in den Niederlanden und Dänemark ausprobiert: Erleichterte Kündigungsmöglichkeiten wurden austariert mit Wiedereingliederungshilfen und einer hohen Arbeitslosenunterstützung, die allerdings nur für kurze Zeit gewährt wurde

Sie plädieren in Ihrem Buch für eine Synthese aus Liberalismus und Sozialismus. Wie lässt sich das realisieren, ohne dass man in einen diffusen dritten Weg abdriftet?

Diese Dritter-Weg-Konzepte wie "Flexicurity" sind ja das Gegenteil von Liberalismus. Hinter jedem Arbeitslosen sitzt da nämlich ein Beamter, der ihn von morgens bis abends kontrolliert. Ein moderner linker Liberalismus funktioniert nur über eine Selbstbeschränkung des Staates. Der muss sagen: Wir können bestimmte Dinge nicht regeln - Beispiel aktive Arbeitsmarktpolitik. Es ist zig-fach bewiesen, das eine solche Politik nicht funktioniert. Eine Behörde in Nürnberg will Menschen vorschreiben, welche Qualifikationen sie erwerben sollen, um irgendwann wieder einen Job zu kriegen. Das klappt nicht. Der Staat muss das soziale Mikromanagement anderen Institutionen überlassen, und damit meine ich nicht den Markt. Es gibt so viele zivilgesellschaftliche Institutionen in Deutschland, die tragende Rollen hatten oder haben. Zum Beispiel die Wohnungsbaugenossenschaften, die etwa in Hamburg in den 20er Jahren den Städtebau geprägt haben. Da plante eine zivilgesellschaftliche Institution den öffentlichen Raum. Das war weder Markt noch Staat, und mit dem Ergebnis sind wir trotzdem heute noch zufrieden. Oder auch was die Löhne angeht. Es geht eben nicht, dass der Staat Mindestlöhne vorschreibt. Vielmehr muss man überlegen, wie man die Marktmacht der Arbeitnehmer wieder stärkt, damit sie am Markt auch wieder ein vernünftiges Einkommen erzielen können.

Was wären da die geeigneten Instrumente?

Zum einen sicherlich das Instrument eines Grundeinkommens, das zur Folge hätte, dass man ein ausbeuterisches Arbeitsangebot auch ablehnen kann. Zum anderen führen diese ganzen Hartz-IV-Bürokratiemaßnahmen dazu, dass die Löhne unter Druck geraten. Menschen nehmen jetzt auch richtig miese Jobs an, weil ihnen Bürokraten im Genick sitzen und sagen, "wenn du das nicht machst, dann kürzen wir dir die Stütze!". Da führt also ein Eingriff des Staates - diese Bürokratie - zu seinem nächsten Eingriff - dem Mindestlohn. Wird der Mindestlohn eingeführt, steht der nächste Eingriff bevor, nämlich die Beschränkung der Scheinselbstständigkeit, weil wahrscheinlich viele der Mindestlohnjobs umgewandelt werden in selbständige Tätigkeiten. Da bestätigt sich eine alte liberale Stammtischweisheit: Jede Sache, die der Staat reguliert, zieht einen Rattenschwanz von Folge-Regulierungen nach sich. Leider ist der Gedanke, dass der Staat zu viel eingreift, parteipolitisch nur bei den Rechten und den Neoliberalen präsent. Auf der linken Seite des Spektrums gibt es dafür überhaupt keine Lobby - das finde ich sehr schade.

Es gibt eine großstädtische Elite, die vernetzt ist und über alle wichtigen Zugänge, Bildungsmöglichkeiten und Codes verfügt. Was ist mit denjenigen, die nicht über diese Möglichkeiten verfügen? Wie macht man denen den von Ihnen propagierten Linksliberalismus 2.0 schmackhaft?

Ich bin ja kein Politiker. Es ist mein Glück, dass ich nicht auf einem Parteitag der SPD oder der Grünen eine Mehrheit organisieren muss für ein Grundeinkommen. Aber was dieses beschriebene Szenario betrifft mit der Masse, die mit ihrem Grundeinkommen dahinvegetiert und über sich so eine Herrscherkaste hat: Da hätte das Grundeinkommen ganz klar seine Aufgabe verfehlt. Für mich ist das ja keine Stilllegungsprämie, als die es oft verunglimpft wird, sondern ein aktivierendes Sicherungsinstrument. Ich glaube, dass diese Kreativität und diese Lust darauf, das eigene Leben zu gestalten, in jedem Menschen steckt. Es fällt nur unterschiedlich leicht, diese Lust herauszulassen. In einem schön klimatisierten Büro mit PC, wo man sich den ganzen Tag Gedanken machen kann, fällt das natürlich leichter, als wenn man am Fließband steht. Ich glaube jedenfalls nicht an gesellschaftliche Prozesse, in denen eine Elite den Rest der Bevölkerung gegen ihren Willen mitschleifen kann. Ich glaube ganz fest daran, dass der Großteil der Bevölkerung sich nicht schlafen legen würde. Die 68er-Bewegung war ja auch das Elitenprojekt einer studentischen Minderheit und binnen weniger Jahre wurde daraus dann unter Willy Brandt ein gesellschaftliches Liberalisierungsprojekt, das der SPD eine Regierungsmehrheit verschaffte.

Ihr Buch endet mit einer fiktiven Regierungserklärung einer ungenannt bleibenden Bundeskanzlerin, die recht ernstgemeint klingt. Können Sie sich vorstellen, selber in die Politik zu gehen? Oder wer soll sonst diese Regierungserklärung abgeben? An wen haben Sie dabei gedacht?

Das hat mich mein Lektor auch gefragt. Ihm fiel nur Andrea Nahles sein. Die wird es aber wahrscheinlich nicht sein. Auch Renate Künast nicht. Mir schwebte keine konkrete Person vor. Ich habe auch selber keine Ambition, in die Politik zu gehen. Dafür bin ich viel zu gerne Journalist und berufsmäßiger Klugscheißer. Einer, der am Spielfeldrand steht und einen von 80 Millionen Bundestrainern gibt. Wahrscheinlich habe ich auch deswegen die Erklärung einer Frau zugeschrieben, damit der Verdacht nicht auf mich fällt.

Interview: Axel Henrici und Mark Stöhr