Der Katalane Victor Obiols scheitert nun als zweiter Europäer an der Aufgabe, das Gedicht zu übersetzen, das Amanda Gorman bei der Amtseinführung von US-Präsident Joe Biden vorgetragen hat. Ihm wurde als Begründung gesagt, er habe das falsche "Profil". Obiols ist ein (schon etwas älterer) weißer Mann aus Barcelona, Gorman eine junge schwarze Amerikanerin. Erst Anfang März hatte die weiße niederländische Autorin Marieke Lucas Rijneveld davon Abstand genommen, Gormans Gedicht zu übersetzen, nachdem aus der schwarzen Community Kritik an ihrer Wahl als Übersetzerin laut geworden war. Es wurde sich stattdessen eine junge Schwarze gewünscht, die sich besser in die gesellschaftlichen Konflikte der afroamerikanischen Lyrikerin hineinversetzen könnte. Die Kritik an den gewählten Übersetzern aus Europa wirkt in beiden Fällen durchaus nachvollziehbar, allerdings auch wie eine Vorverurteilung – und womöglich schwer umzusetzen.
"Sie sagten mir, ich sei nicht geeignet, es zu übersetzen", sagte der katalanischer Übersetzer Victor Obiols der Nachrichtenagentur AFP. "Sie haben nicht meine Fähigkeiten infrage gestellt, sondern suchten nach einem anderen Profil. Es sollte eine Frau sein, jung, Aktivistin und am besten schwarz." Die am 7. März 23 Jahre alt gewordene Gorman hatte für den Vortrag ihres Gedichts bei Bidens Amtseinführung viel Lob erhalten. Der Sturm auf das Kapitol hatte sie dazu inspiriert und sie zu dem Schluss gebracht, das eine Demokratie "nicht für immer verteidigt" werden kann.
Die jüngste Poetin seit Robert Frost
Amanda Gorman war die jüngste Autorin, die bei einer US-Amtseinführung ein Gedicht vortragen durfte. 1961 kam dem Amerikaner Robert Frost bei John F. Kennedy die Ehre zum ersten Mal zuteil. Zudem passte ihr Vortrag perfekt in die aktuelle Debatte über Rassismus gegenüber Schwarzen und das Vermächtnis der Sklaverei in den USA.
Vor drei Wochen hatte Obiols, der bereits Shakespeare und Oscar Wilde übersetzt hat, eine Anfrage des Verlags Univers erhalten, das Gedicht ins Katalanische zu übersetzen. Der katalanischen Version sollte ein Vorwort von Oprah Winfrey vorangestellt sein werden. Als Obiols seine Arbeit beendet hatte, erhielt der Verlag eine Nachricht, dass Obiols nicht "der Richtige sei", berichtete der Übersetzer. Er wisse jedoch nicht, ob die Kritik von dem amerikanischen Verlag kam oder von Gormans Agent, schreibt der britische "Guardian". "Das ist ein sehr kompliziertes Thema, das man nicht leichtfertig abhandeln kann", sagte Obiols.

Obiols stellte eine gute Frage
Was bedeuten die Entscheidungen für die gesamte Literatur? Muss nun für jede Übersetzung das richtige Profil und nicht die qualifizierteste Person gesucht werden? Wie soll das gehen? Obiols fragte zu Recht: "Wenn ich eine Dichterin nicht übersetzen kann, weil sie eine Frau, schwarz und Amerikanerin im 21. Jahrhundert ist, kann ich auch Homer nicht übersetzen, weil ich kein Grieche aus dem 8. Jahrhundert vor Christus bin. Oder hätte Shakespeare nicht übersetzen können, weil ich kein Engländer aus dem 16. Jahrhundert bin."
Obiols wird für seine Übersetzungsleistung trotz Nichtveröffentlichung von Univers bezahlt.
Quelle: "The Guardian"