Bislang kennen wir die Forderung nach Authentizität vor allem bei der Besetzung von Schauspieler:innen: Schon manchen Regisseur:innen flog die Wahl ihrer Darsteller:innen um die Ohren, wenn Heterosexuelle die Rollen von schwulen, lesbischen oder Trans-Charakteren im Film übernommen hatten. Dass weiße Schauspieler:innen angemalt werden, um Schwarze zu spielen, ist glücklicherweise schon lange ein Tabu.

Nun haben wir es jedoch mit einer anderen Kunstgattung zu tun, der Übersetzung. Der Verlag Meulenhoff hat in der vergangenen Woche seine Wahl für die Übersetzerin von Amanda Gormans Gedicht "The Hill We Climb" ins Niederländische bekanntgegeben: Die Schriftstellerin Marieke Lucas Rijneveld, 29, die 2020 mit ihrem Debütroman "The Discomfort of Evening" den International Booker Prize gewann, sollte die Arbeit übernehmen. Doch der Drops ist inzwischen gelutscht. Rijneveld lehnte nach dem Trubel um ihre Person den Auftrag ab.
Journalistin kritisiert die Wahl des Verlags
Die schwarze Journalistin und Aktivistin Janice Deul hatte in der Zeitung "de Volkskrant" ihre Meinung geäußert: "Harvard-Absolventin Gorman, von einer alleinerziehenden Mutter erzogen und aufgrund von Sprechschwierigkeiten als Kind mit 'besonderen Bedürfnissen' bezeichnet, nennt sich selbst ein 'Skinny Black Girl'. Ihre Arbeit und ihr Leben sind geprägt von ihren Erfahrungen und ihrer Identität als schwarze Frau. Ist es nicht – gelinde gesagt – eine verpasste Gelegenheit, Marieke Lucas Rijneveld für diesen Job einzustellen? Sie ist weiß, nicht binär, hat keine Erfahrung auf diesem Gebiet, ist aber laut Meulenhoff immer noch die 'Traumübersetzerin'?" Gorman und ihr Team hatten zuvor die Wahl des Verlages bestätigt.
Es sei nicht so, schreibt Deul, als hätte sie etwas gegen Rijneveld. Doch ihr fällt ein ganzer Schwung an besser geeigneten Kandidatinnen aus ihrem eigenen Umfeld ein. Sie alle seien, wie Gorman, Künstlerinnen des gesprochenen Wortes, jung, weiblich und "selbstverständlich schwarz". Deuls Meinung nach könnte eine Übersetzerin, die selbst lange um Anerkennung kämpfen musste, "Gormans Botschaft mächtiger machen".

Wie ähnlich müssen Autor:in und Übersetzer:in sich sein?
Deuls Kritik klingt absolut nachvollziehbar. Vermutlich ist es für eine Übersetzerin mit ähnlichen Erfahrungen einfacher, sich in die Gefühlswelt der 22-jährigen Amanda Gorman hineinzuversetzen. Aber wie ähnlich müssen sich Autor:in und Übersetzer:in sein? Müssen sie wirklich auf den gleichen Erfahrungshintergrund zurückgreifen können? Müsste die Übersetzerin dann auch Harvard-Absolventin sein und als Kind ein Problem mit dem Sprechen gehabt haben? Machen solche Bedingungen eine Übersetzung eventuell ganz unmöglich? Kann ein übersetzter Text überhaupt noch authentisch klingen?
Eine enge Zusammenarbeit zwischen Autor:in und Übersetzer:in streben gute Verlange längst an. Viele Übersetzer:innen wissen über das Leben und die Werke von Autor:innen ebenso viel wie die Verfasser:innen selbst. Sie stehen in regelmäßigem Austausch mit ihnen und ringen um jedes Wort, um den Ton, die Aussage und die Gefühlslage eines Textes zu treffen. Eine Autorin wie Rijneveld wäre dazu sicherlich in der Lage gewesen. Meine Meinung.
Andererseits: Janice Deul ist eine schwarze Niederländerin, Aktivistin und Journalistin. Sie hat auch nur ihre Meinung vertreten.
Quellen: "de Volkskrant", Twitter Janice Deul