Mein Leben als Mensch (Teil 46) Senkel für den Kaiser

Von Jan Weiler
Er saß knapp zwei Jahre neben mir, und sein Name war Wimmer. Wimmer hat ihn mir nie genannt, aber ich schnappte ihn auf, als er einmal sein Handy aus der Jackentasche fummelte und ein Gespräch annahm: "Wimmer."

Nach dem Telefonat versank er wieder in der für ihn typischen nach vorn gebeugten Beobachtungsstarre. Seit dem Umzug des FC Bayern in das neue Stadion saßen wir nebeneinander, er war eine Zufallsbekanntschaft, wobei bekannt schon viel zu viel behauptet wäre. Ich wusste bloß, dass er Wimmer hieß und aus Oberndorf am Lech für jedes Heimspiel allein mit dem Auto nach München kam. Er fuhr einen älteren Audi. Ich habe ihm einmal seinen Schlüsselbund gereicht, als er ihm heruntergefallen ist. Das mit Oberndorf sagte er mir: "Und für den Schmarrn komm ich extra aus Oberndorf am Lech." Das ist bei Donauwörth.

Wimmer ass nichts und trank nichts. Er erschien kurz vor dem Anpfiff und nickte mir knapp zu. Meistens begann er bereits vor dem Spiel zu schimpfen. Sein Repertoire reichte vom grantigen "Ah geh" bis zum mehrminütigen Leistungsappell. Dabei fuchtelte er niemals aufgeregt mit den Armen herum, sondern blieb in seiner Hockstellung. Er nahm auch nicht an "La Ola" teil, und wenn es hieß: "Steh auf, wenn du ein Bayer bist", dann blieb er sitzen. Das Gleiche galt, wenn ein Tor für die Roten fiel. Wimmer war für die Scheißstimmung in der Allianz-Arena verantwortlich, so würden es vielleicht die Offiziellen formulieren. Er klatschte nicht einmal, er nickte nur, und wenn es wieder ruhig wurde, sagte er zu mir: "So. Da schaugst. Des war unausweichlich." Das Zustandekommen von Gegentoren erkannte er schon in der Entstehung. "Unglücklich, aber unausweichlich", sagte er dann. Er war ein Tore-Orakel. "Glei passiert's", sagte er, und wenn Sekunden später Konfetti und Mützen und Klopapierrollen flogen, dann wusste ich schon: Das war unausweichlich.

Bei langweiligen Spielen sprach Wimmer manchmal mit mir. Er sah mich dabei nicht an, sondern schaute nach vorn aufs Spielfeld. Eine Geschichte hat er mir mehrmals erzählt, und ich glaube, er hat sie sich ausgedacht, denn er erzählte sie immer ein wenig anders. Ich glaube, er hatte ein zu schlechtes Gedächtnis, um richtig gut lügen zu können. Jedenfalls behauptete er, dass er dem jungen Franz Beckenbauer einmal Geld zugesteckt habe, weil der in seinen Anfangsjahren als Fußballer so arm gewesen sei. Da habe er dem späteren Kaiser eine Mark gegeben für eine Bratwurst. Und später habe der Franz dann ein Vermögen verdient und ihn nicht mehr gekannt. Sie seien sich noch häufiger begegnet, aber der feine Herr Beckenbauer habe ihn nicht einmal mehr gegrüßt. Später hat Wimmer die Geschichte so erzählt, dass er dem Franz Beckenbauer ein Pfund Kaffee geschenkt habe, dann war es Schokolade und schließlich ein Schnürsenkel, den Wimmer dem eigenen Schuh entnommen habe, damit Franz sein Spiel und seine Weltkarriere mit seinem Schnürsenkel fortsetzen konnte. Und später nichts als Undank. Es klang, als hätten Beckenbauer und der FC Bayern alles ihm, dem Wimmer, zu verdanken.

Wenn Wimmer schwieg, sah ich ihn von der Seite an und entdeckte keine Leidenschaft in seinem Gesicht, höchstens eine hohe Körperspannung, wie sie beim Beobachten entsteht. Er stand mit dem Schlusspfiff auf, nickte mir zu und ging. Das letzte Mal sah ich ihn im November. Dann blieb sein Platz leer. Beim ersten Mal nahm ich es zur Kenntnis, beim zweiten wunderte ich mich, beim dritten machte ich mir Sorgen.

Erst als die Rückrunde begann, war der Platz wieder besetzt. Ein Mann mit Schnurrbart saß auf seinem Platz. Ich fragte ihn, was mit Herrn Wimmer sei, und er antwortete: "Der ist tot. Herzinfarkt. Ich war sein Nachbar. Seine Frau hat mir die Karte geschenkt." Dann gab er mir seine fettverschmierte Pranke und biss in seine Bratwurst.

Der Neue brüllt den Schiri an. Er steht auf, weil er ein Bayer ist, er jubelt sich einen ab und klatscht Klatschmärsche. Er wedelt mit den Armen, fordert rote Karten und trägt eine blöde Mütze. Er redet nur Unsinn, und nach dem Spiel ist er heiser. Es ist unerträglich. Wimmer fehlt mir so. Er war einfach für meine Stimmung verantwortlich.

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