Was macht man mit Schulkindern, die lieber draußen spielen als zu lesen und sich vor dicken Büchern fürchten? In meinem Fall hat die folgende Methode funktioniert: Als ich für das elterliche Vorlesen vor dem Zubettgehen nach eigener Einschätzung "zu groß" war, bekam ich Hörspiel-Schallplatten mit Geschichten von Otfried Preußler geschenkt.
Von da ab saßen meine kleine Schwester und ich gebannt vor dem Plattenspieler und hörten zu, was die "Kleine Hexe", das "Kleine Gespenst" oder "Kasperl und Seppel" im "Räuber Hotzenplotz" für Abenteuer bestehen mussten. Die Stimmen der Geschichten habe ich noch heute im Ohr. Namhafte Schauspielerinnen und Schauspieler lasen die Abenteuer vor – zeitweise kannte ich einige der Passagen auswendig.
Und genau das war gleichzeitig auch ein Problem – denn im Vergleich mit den Büchern waren diese Schallplatten stark gekürzte Versionen der Geschichten, die Preußler ersonnen hatte. Relativ schnell kannte ich alles und wusste auswendig, was als nächstes in der Audio-Geschichte kommt.
Ich vermutete also, dass in den Büchern noch mehr Spannendes zu entdecken sein könnte. Sie waren schließlich ganz schön dick.
Derart neugierig geworden, traute ich mich an die Lektüre eines richtigen Buchs heran: "Räuber Hotzenplotz". Es kam mir so immens vor, dass ich dachte, ich würde mich über Jahre durch die vielen Seiten kämpfen.
Mit dem "Kleinen Wassermann" wurde Otfried Preußler berühmt
Daraus wurden dann nur einige Tage. In meinen ersten Schuljahren Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre habe ich fast alle Bücher von Otfried Preußler gelesen. Bis auf den "Kleinen Wassermann". Da fand ich das Cover langweilig.
Damit stehe ich wohl im Widerspruch zu den meisten anderen Preußler-Fans. Oder das Buch fand seine Leser trotz des Covers. Denn jenes Abenteuer, das 1956 erschien, galt über Jahrzehnte als Preußlers erste Buchveröffentlichung und machte den am 20. Oktober 1923 geborenen Autor weltberühmt. Es war der Beginn einer außergewöhnlichen literarischen Erfolgsgeschichte. Bis heute wurden seine Werke in mehr als 50 Sprachen übersetzt. Millionen von Büchern hat Preußler verkauft und unzählige Kinder vieler Generationen begeistert. An diesem Freitag wäre der Schriftsteller 100 Jahre alt geworden.

Seine Geschichten sind oft eine Mischung aus Abenteuer und etwas Magie. Jener magische Teil rührt, so wird es heute in Beiträgen über den Autor erklärt, aus seiner Familiengeschichte: Geboren und aufgewachsen in Nordböhmen, im damaligen Sudetenland und heutigen Tschechien, wuchs er mit einem ganzen Repertoire an Märchen und Geschichten aus der Region auf: mit slawischen Legenden, Erzählungen und Mythen, teils mündlich tradiert. Zeitlebens konnte er daraus schöpfen, heißt es in Beiträgen über das Werk von Otfried Preußler. Als Kind habe er die Geschichten geliebt und als Jugendlicher seine Begeisterung für das Schreiben entdeckt.
Das klingt beinahe etwas zu märchenhaft – und ist es auch. Denn Preußlers Biographie hat auch Elemente, über die der Autor nicht sprach, schon gar nicht, als er in Westdeutschland zum absoluten Kinderbuchstar avanciert war.
Hitler-Jugend-Roman aus den 1940er Jahren
Erst nach seinem Tod 2013 wurde einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, dass sein erstes veröffentlichtes Buch nicht "Der kleine Wassermann" war, sondern ein Roman mit dem Titel "Erntelager Geyer". Darüber berichtete der Literaturhistoriker Peter Becher 2015 in einem Artikel. Der Roman sei 1943 oder 1944 im Berliner Verlag Junge Generation erschienen. Beschrieben wird er als typischer Hitler-Jugend-Roman, wo Jungs – oder "Pimpfe" – Abenteuer auf dem Land erlebten. Solche Geschichten hätten zu damaliger Zeit Hochkonjunktur gehabt, heißt es in Berichten dazu.
Preußler, der den deutsch-tschechischen Nationalitätenkonflikt in seiner Heimat, dem Sudetenland, in den 1930er Jahren miterlebte, gehörte in jungen Jahren selbst einer Organisation an, die später in die Hitlerjugend überführt wurde. Sein Vater hatte den Familiennamen Syrowatka 1941 in das wesentlich deutscher klingende Preußler geändert. Unter den Deutschen im Sudetenland herrschte damals vielfach Begeisterung für Adolf Hitler und dessen "Heim-ins-Reich"-Parolen.
Bilder des Tages

Preußler selbst kam mit 18 Jahren zur Wehrmacht und mit 19 an die Ostfront. Er überlebte eine fünfjährige sowjetische Kriegsgefangenschaft und siedelte nach dem Krieg nach Bayern über.
Seine alte Heimat gab es nicht mehr, die Deutschen waren nach dem von Nazi-Deutschland angezettelten Weltkrieg von dort vertrieben worden, Preußlers Geburtsort hieß fortan nicht mehr Reichenberg, sondern Liberec. Doch in seinen Büchern lebte ein Teil seiner alten Heimat weiter – die literarischen Motive, die Hexen und Räuber und magischen Wesen.
Revanchistische Töne waren nach dem Krieg nie von Preußler zu hören. Er gehörte nicht zu den Vertriebenen, die am liebsten die "Ostgebiete" zurückerobert hätten. Ganz im Gegenteil. Es spricht eine Begeisterung für die tschechische Kultur aus seinem Werk, nicht nur in seinen eigenen Romanen. Preußler war es, der den "Kater Mikesch" in Deutschland bekannt machte, als er das Werk des tschechischen Autors Josef Lada aus den 1930er Jahren als deutsches Kinderbuch nacherzählte.
Es ist ein bisschen so wie bei den gekürzten Schallplatten und den Büchern: Die Person Otfried Preußler ist mehr als der Schöpfer schöner Kinderbücher und seine Biographie deutlich vielschichtiger. Der Autor starb am 18. Februar 2013 in Bayern. Generationen von Kindern sind mit seinen Geschichten groß geworden, und viele weitere werden vermutlich folgen.
Quellen: ORF, "Welt.de", "Preussler.de über "Erntelager Geyer", "Preussler.de"
Liebe Leser, leider hat sich beim Namen ein Fehler eingeschlichen: Otfried Preußler wird nur mit einem T geschrieben. Wir haben die Schreibweise korrigiert.