Als am Montag früh die Nachricht vom Tode Jürgen Leinemanns kam, da erst wurde mir klar, wie lange schon und wie sehr ich ihn in den vergangenen Jahren vermisst habe. Nicht den Reporter, den tollen "Spiegel"-Schreiber, dessen großartige Geschichten manche nur lasen, wenn sie sich zuvor eine Kanne Tee gekocht hatten und gewiss waren, dass sie viel Zeit und Ruhe für den Genuss der Lektüre hätten. Nein, das ist es bei mir nicht. Ich vermisse den ungebrochen kollegialen Menschen. Ich vermisse die journalistische Instanz "Leinemann".
Eine schwere Krankheit hatte ihn vor Jahren bereits aus dem Bild geschoben. Ohne ihn jedoch war das Bild des Berliner Politikbetriebs seither nicht mehr komplett. Wie oft hatte man auf Parteitagen, bei Sitzungen, Gipfeln und Wahlkampfauftakten sein silberweißes Haupt vom Rande her aufleuchten sehen. Leinemann gab den Dingen Halt. Er verlieh den Ereignissen Gewicht und schenkte Gesichtern Klasse. Immer stand er dabei, wenn es wichtig war und wurde. Auch den 50. SPD-Parteitag verfolgte er noch so aufmerksam und neugierig wie seinen allerersten. Und immer mit dem Gesichtsausdruck eines sehr freundlichen Dachses, was eindeutig am Kontrast zwischen seinen weißen Haaren und den schwarzbuschigen Augenbrauen lag.
Sein gemischtes Sprachtimbre aus Berlinerischem und Lüneburger Heide kannte die Spitzen der Empörung nicht. In seiner Schilderung war alles eher amüsant als skandalös. Es gab viel zu lachen mit Jürgen Leinemann. Vielleicht auch deshalb, weil er als trockener Alkoholiker stets Orangensaft bestellte, wenn alle anderen schon benebelt vom Rotwein waren.
Er war keiner aus der Old-Boys-Network-School
Jürgen Leinemann war ein Damen-Mann. Ein bisschen eitel, klar. Aber keiner aus der Old-Boys-Network-School, der auf die Redakteurinnen herabsah, die sich in den 90ern plötzlich immer häufiger auf den Berichterstattungsfeldern der Politik schlugen. Er war keiner, der sich nur mit politischen Zuraunern wichtig und mit Kollegen dicke tat. Leinemann gab uns Tipps, er schloss uns mit ein, nicht aus. Wie oft war ich auf Politikerreisen mit ihm um die Welt geflogen, eingeklemmt in die Hintersitze der Regierungsflieger. Südamerika, Okinawa, Peking. Und wie oft hatten wir uns vor verschlossenen Türen über die dahinter lustig gemacht. Eichstätt, Fulda, Immensen. Seine Analysen und Beobachtungen waren schonungslos menschenfreundlich.
"Spiegel" und stern - das waren früher eigentlich ewige Konkurrenten. Man ließ sich nicht in die Notizblöcke schauen. Eigentlich. Aber im journalistischen Alltag haben stern und Leinemann Hintergrundgespräche und kleine Interviews sogar gemeinsam geführt, wenn es gerade nicht anders ging. Wir haben unsere Erkenntnisse geteilt, und manchmal auch die Informationen. Manchmal sorgte allein der Satz "der Leinemann ist auch schon dran" dafür, dass die eigene Geschichte garantiert ins Blatt fiel.
"Der Leinemann soll mal nach vorne kommen"
Von Jürgen Leinemann konnte man lernen. Zum Beispiel, wie man damit umgeht, bei Politikern in Ungnade zu fallen, wenn man zu böse berichtet hat. Als er selbst nämlich einmal etwas Missbilligendes über den damaligen Ministerpräsidenten Schröder geschrieben hatte, konstatierte dessen Gattin: "Mit den Leinemanns sind wir durch!" Fortan mied Schröder seinen langjährigen Lieblingsreporter. Dann aber, als Schröder Hillu durch Doris ersetzte und Kanzler werden wollte, pirschte sich Leinemann sachte, aber selbstbewusst wieder in die Runde vor. Es dauerte nicht lange, bis der Kanzlerkandidat bei seinen Auftritten wieder nach dem weißen Häuptling suchte. Bis er auf Reisen im Flieger nach ihm schicken ließ: "Der Leinemann soll mal nach vorne kommen."
Solche wie ihn gibt es nicht mehr. Das ist sehr traurig. Dass er am Geburtstag Martin Luthers starb ist dagegen triftig. Denn Jürgen Leinemann stand immer da. Er konnte nicht anders.