Neue Vorwürfe Fall Rammstein: Wie ich meine Lieblingsband verliere

Rammstein auf der Bühne
Neben Rammstein-Sänger Till Lindemann (rechts) stehen nun auch Vorwürfe gegen Keyboarder Christian "Flake" Lorenz (links) im Raum
© Malte Krudewig / DPA
Neue Vorwürfe lassen die Diskussion um Rammstein wieder aufflammen. Und als Fan kommt man nicht umhin, sich einzugestehen: So geht es nicht weiter.

Es ist gut vier Wochen her, dass ich an dieser Stelle schrieb, wie schwer mir als Fan fällt, mich im Fall Rammstein zu positionieren. Seit Ende Mai berichten mehr und mehr Frauen von mutmaßlichen sexuellen Übergriffen. Von einem "Casting-System", um Sänger Till Lindemann Frauen zuzuführen, und von Partys, nach denen sich die weiblichen Fans an nichts erinnern konnten. Lindemann selbst bestreitet alle Anschuldigungen über seine Anwälte.

Ich plädierte damals dafür, sich selbst und allen anderen in der Diskussion Zeit zu lassen, um sich eine Meinung zu bilden und vor allem den mutmaßlich Betroffenen weiter zuzuhören. 

Was ist seitdem passiert? Von außen betrachtet könnte man meinen: gar nichts. Rammstein ist wie geplant auf Europa-Tour, die Stadien sind ausverkauft, Till Lindemann rollt das "R" weiterhin zuverlässig, die Pyrotechnik macht aus jeder noch so dröge wirkenden Arena ein Flammenmeer.

Vorwürfe gegen Rammstein: Wie ein Fiebertraum, der genauso schnell verschwand wie er gekommen war

Nur einige wenige Demonstranten, die insbesondere vor den Konzerten in Berlin gegen die Auftritte protestierten, störten das Bild. Die Vorwürfe wirkten plötzlich sehr weit weg – ein Fiebertraum, der genauso schnell verschwand, wie er gekommen war.  

Diese Tage, in denen Ruhe einkehrt, bringen für die Fans von Rammstein eine absurde Hoffnung mit: Vielleicht kommt da ja gar nichts mehr. Vielleicht war es das, und es klärt sich bald alles. Vielleicht ist Rammstein bald einfach wieder eine normale Band.

Und genau an einem solchen Tag lassen neue Vorwürfe den bequemen Schleier des Vergessen(-Wollens) verschwinden, und man sieht die Realität wieder klar. Diesmal geht es nicht mehr allein um Till Lindemann. Auch Keyboarder "Flake" Lorenz soll einem neuen Bericht zufolge sexuell übergriffig gewesen sein – unter anderem gegenüber einer 17-Jährigen, das berichten Süddeutsche Zeitung und der NDR. Lorenz selbst ließ die Vorwürfe demnach durch einen Anwalt dementieren.

Jede neue Geschichte, die ans Licht kommt, lässt mein Vertrauen bröckeln – auch in mich selbst

Jede neue Geschichte, die ans Licht kommt, lässt mein Vertrauen in die Band bröckeln – und auch in mich selbst. Ausgerechnet Flake! Der war doch immer der Intellektuelle der Band, der Vernünftige. Künstler, Autor, einer, der das Theater liebt. Wenn die anderen gefeiert haben, sei er lieber ins Hotel gefahren, um zu lesen, heißt es. So einer wird doch nicht sexuell übergriffig – oder doch? 

Der Vorfall, den eine Frau NDR und SZ schildert, soll den Angaben zufolge Jahrzehnte her sein. Und ja, natürlich kann man argumentieren, dass die Sensibilität für sexualisiertes Verhalten noch nicht so ausgeprägt war wie heute. Oder dass alle Beteiligten stark betrunken gewesen sein sollen. Doch das will ich so nicht gelten lassen. Betrunken baut man mal Mist – aber in meiner Welt bedeutet das, ein Baustellenlicht zu klauen oder ein Dixie-Klo umzukippen. Nicht mit einer praktisch besinnungslosen Frau zu schlafen, ohne auch nur in Erwägung zu ziehen, ob sie dies gerade möchte oder nicht. 

Seit Wochen schreibe ich in alle Artikel zu diesem Thema die gleiche Floskel, und sie gilt auch heute: Solange die Beschuldigten nicht rechtskräftig verurteilt sind, gilt die Unschuldsvermutung. 

Als Fan aber schmerzt jeder neue Artikel, jede Enthüllung, jede Geschichte. Es sind mittlerweile zu viele, als dass ich glauben kann, die ganze Welt habe sich gegen Rammstein verschworen und nichts von den berichteten Ereignissen sei je passiert. 

Rammstein-Fans: Arroganz trifft Naivität

Jahrelang habe ich die Musik von Rammstein als tiefgründige, weil so vielseitig interpretierbare Kunst verstanden. Ansichten, die Texte seien platt, die Songs hörten sich alle gleich an und der Mythos der Band sei nur das Ergebnis aus einem Ausmaß an Feuerwerk, das mindestens so obszön sei, wie die restliche Bühnenshow, wischte ich vom Tisch.

Ich habe nie erkannt, dass ich dem gleichen Gefühl verfallen war wie viele andere auch: Als Fan wähnt man sich als ein elitärer Kreis – eine Gruppe von Gleichgesinnten, die eine bestimmte Kunst durchstiegen haben und sie deshalb so großartig finden. Denjenigen, die sie nicht mögen, tun dies nur nicht, weil sie sie nicht verstanden haben. Und die Mitglieder einer Band, die großartige Kunst schafft, können doch per se erst einmal keine schlechten Menschen sein. Arroganz trifft Naivität. 

Mit jedem Vorwurf, der öffentlich wird, bröckelt das Abwehrbollwerk, das ich irgendwie noch immer in mir trage. Die Geschichte "das war alles Till, wir wussten von nichts" der restlichen Bandmitglieder ist spätestens jetzt ad absurdum geführt. Vermutlich werde ich mich von dieser Band verabschieden müssen und trotz aller Argumente dafür, wird es ein langer und schwerer Abschied.

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