Das stern-Team trifft Pawlo Palisa in einem Keller in der Kleinstadt Druschkiwka. Von hier sind es nur wenige Kilometer bis zur Front – die der Oberstleutnant mit seiner Brigade zu halten versucht.
Wie ist die militärische Lage derzeit an dem Frontabschnitt hier im Donbas?
Die Lage ist stabil und schwierig. Die Russen versuchen, mit kleinen Infanterie-Gruppen unsere vordersten Linien zu durchbrechen, setzen dafür Panzer und andere gepanzerte Fahrzeuge ein. Gott sei Dank noch ohne Erfolg. Höchstens einmal im Monat zerstört der Gegner eine Position, die wir nicht halten können.
Vor Kurzem musste die ukrainische Armee nach über zwei Jahren Verteidigung die Stadt Wuhledar aufgeben. Welche militärischen Folgen hat das?
Das ist der Abschnitt des benachbarten Militärverbands. Deshalb ist es schwierig zu beurteilen, wie das unsere Situation beeinflussen wird. Aber zweifellos ist das ein sehr schwieriger Moment, weil diese Stadt sehr lange verteidigt wurde. Es ist auch ein Schlag auf die Moral.

Zur Person
Pawlo Palisa stammt aus Lwiv und ist seit 20 Jahren Soldat. Zu Kriegsbeginn studierte er in den USA, kehrte jedoch in die Ukraine zurück. Der Oberstleutnant ist seit 2023 Kommandeur der 93. Brigade, die im Donbas die Front verteidigt. Die Brigade gilt als eine der kampfstärksten ukrainischen Militäreinheiten
Die russische Armee steht inzwischen auch wenige Kilometer vor der Stadt Pokrowsk, die über die letzten Jahre eine wichtige Rolle für die Versorgung der ukrainischen Truppen gespielt hat. Wie ernst wäre die Einnahme der Stadt durch die Russen?
Zweifellos ist Pokrowsk ein wichtiger Logistikknoten. Aber ein Verlust von Pokrowsk wird dem Gegner keinen grundsätzlichen Erfolg bringen. Im Übrigen denke ich nicht, dass der Gegner in der nächsten Zeit genügend Ressourcen aufbringen kann, um die Stadt einzunehmen.
In ukrainischen Medien wurde zuletzt viel über die Qualität der ukrainischen Verteidigungsanlagen gestritten. Wie gut sind Sie hier aufgestellt?
Was die Anlagen in unserem Abschnitt betrifft, so haben wir die Möglichkeit, sie selbstständig zu planen und auszuführen. Die übrigen Abschnitte kann und will ich nicht kommentieren.
Wie deutlich sind Sie den russischen Truppen hier zahlenmäßig unterlegen?
Die Russen können Verluste schneller ausgleichen als wir. Sie haben viele Soldaten. Sie haben auch mehr Material, aber sie setzen es meist erfolglos ein. Vor unserer Verteidigungslinie stehen etwa 60 zerstörte Panzer und gepanzerte Fahrzeuge. Das spricht für sich.
Ein anderer Kommandeur hat mir gesagt: "Mit dem Material und den Soldaten, die wir haben, ist alles, was wir momentan tun können, 'Feuer zu löschen', also russische Angriffe abzuwarten und sie abzuwehren". Sehen Sie das ähnlich?
Unsere Aufgabe lautet heute: Verteidigung. Und das bedeutet, den Angreifer zu vernichten und Bedingungen für Gegenangriffe zu schaffen. Das tun wir gerade.
Die Ukraine fordert von den westlichen Partnern, mit deren Langstreckenraketen auch Ziele in Russland angreifen zu dürfen. Wie wichtig ist das für den Kriegsverlauf?
Das ist sehr wichtig. Die Vernichtung des Gegners an der Front, hinter der Front, Präzisionsschläge gegen wichtige Objekte, nur das alles zusammen bringt etwas. Wenn man nur auf ein Ziel setzt, dann bringt das nichts.
Die Ukraine setzt große Hoffnungen auf Drohnen. Bringt deren Einsatz hier an der Front Ihnen Vorteile gegenüber einem zahlenmäßig überlegenen Gegner?
In unserem Abschnitt stehen viele russische Einheiten, die auch mehr Drohnen als wir haben. Aber ungeachtet dessen fügen wir dem Gegner großen Schaden zu. Daraus kann ich schließen, dass unsere Drohnen derzeit eine bessere Qualität haben, wir sie auch besser programmieren – zum Beispiel, wie schnell sie sich wohin bewegen. Diese leichte Überlegenheit werden wir weiterentwickeln, weil es eine neue Form der Unterstützung der Infanterie ist, damit gehen wir gegen Artilleriestellungen des Gegners vor. Das ist unser Trumpf. So können wir mehr Russen töten und unsere eigenen Soldaten schützen.
Seit dem Frühjahr läuft in der Ukraine eine neue Mobilisierungswelle. Können Sie mit den frischen Soldaten Ihre Verluste ausgleichen?
Die Leute kommen, ja, aber es wäre gut, wenn es mehr wären. Sie sind zufriedenstellend ausgebildet, aber wie jeder Kommandeur würde ich mir wünschen, dass es besser wäre. Jeder Kommandeur will junge, motivierte und physisch starke Männer sehen. Aber wir arbeiten mit dem, was da ist, wir versuchen sie so zu trainieren, dass sie auf dem Schlachtfeld überleben.
Immer wieder hört man von Männern, die von den Wehrämtern zwangsweise auf der Straße eingesammelt und an die Front geschickt werden. Wie verbreitet ist diese Praxis?
Das weiß ich nicht. Diese Fragen müssen an die Mitarbeiter dieser Ämter in den Regionen gestellt werden.
Aber wie wirkt sich das auf die Motivation der Soldaten aus?
Die Motivation hängt von vielen Faktoren ab. Da ist die Gemeinschaft, der Abschnitt, wo sie eingesetzt werden, die Qualität der Führung, Ausbildung und Verluste. Dort, wo die Intensität der gegnerischen Angriffe größer ist, gibt es mehr Verluste. Und dort sinkt die Motivation schneller. Ich will nicht lügen: Die Einheiten sind erschöpft – manche mehr, manche weniger. Aber die Jungs halten sich trotzdem.
Zuletzt war in ukrainischen Medien die Rede davon, dass 100.000 Soldaten ihre Einheiten unerlaubt verlassen hätten. Wie ernst ist dieses Problem bei Ihnen?
Das ist generell ein Problem in der ukrainischen Armee. Es wäre gut, wenn man diese Soldaten, wenn sie dann zurückkommen, anderes einsetzen könnte – oder die Probleme gelöst würden, die sie dazu gebracht haben, ihre Einheit zu verlassen.
Aber zählen Sie in letzter Zeit mehr Fälle?
In unserer Brigade nicht. Es ist eine Größenordnung wie 2023 oder 2022.
Sie gelten als Kommandeur, der sich bemüht, engen Kontakt zu den Soldaten zu halten. Was denken die darüber, dass im Ausland und in der Ukraine zunehmend über die Notwendigkeit von Verhandlungen mit Russland diskutiert wird?
Natürlich sprechen die Soldaten darüber. Jeder hat seine eigene Meinung. Die einen sind vollkommen erschöpft und wollen sich ausruhen, ihre Familie sehen und zum friedlichen Leben zurückkehren. Andere wollen den Kampf fortsetzen, auch wenn sie müde sind. Und egal, wie unsere Partner das sehen: Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung. Aber Arbeit ist Arbeit. Meine eigene Sicht ist: Alle Konflikte enden mit Verhandlungen, aber heute gibt es nicht die nötigen Bedingungen für Verhandlungen. Deshalb wird es in nächster Zeit keine Verhandlungen geben, die zu einem Waffenstillstand führen.
Was muss dafür passieren?
Die Bedingungen müssen geschaffen werden. Dazu müssen beide Seiten bereit zu Verhandlungen sein. Aber weder die Russen noch die Ukrainer sind momentan dazu bereit.
Wann wäre denn die eine oder die andere Seite dazu bereit?
Weder die eine noch die andere Seite hat derzeit alle Möglichkeiten zur Kriegsführung ausgenutzt. Es geht hier nicht um das Erreichen irgendwelcher Ziele. Es geht um Fähigkeiten. Solange die Fähigkeiten auf dem Schlachtfeld nicht ausgeschöpft sind, wird es zu keinen ernsthaften Verhandlungen kommen.
Zugleich haben Sie in einem Interview zuletzt zugegeben, dass der Abnutzungskrieg, wie wir ihn seit nunmehr zwei Jahren sehen, zu Russlands Vorteil verläuft: Das Land hat mehr Einwohner, zugleich wird vor allem auf dem Territorium der Ukraine gekämpft.
Ja, das ist so.
Was muss geschehen, damit die Ukraine in eine bessere Lage kommt, um die Russen zu Verhandlungen zu zwingen?
Nehmen wir an, das Ergebnis des Krieges ist eine Zahl, die den Unterschied zwischen der Summe unserer Fehler und jener des Gegners ist. Das Ergebnis, das wir brauchen, müssen wir dadurch erreichen, dass wir unsere Fehler nicht wiederholen und dem Gegner die Möglichkeit geben, mehr Fehler zu machen. Auf allen Ebenen: taktisch, wirtschaftlich, auch, was die Öffentlichkeitsarbeit angeht. Ich will die Russen auf keinen Fall unterschätzen. Das ist ein starker Gegner, aber wir können ihn besiegen. Es hängt davon ab, wie klug und umfassend wir diesen Krieg führen.
Welche Waffen braucht die Ukraine dafür? Sind etwa Panzer noch relevant?
Es gibt keine Universalwaffe. Man muss die Waffen kombinieren. Wir brauchen Präzisionswaffen in der nötigen Anzahl, also Raketen, eine größere Anzahl Drohnen, Technik für die elektronische Kampfführung, Artillerie, Munition, auch Streubomben. Aber nicht nur die Anzahl ist entscheidend, sondern der Faktor Zeit. In Zeiten des Krieges ist die wichtigste Ressource nach den Menschenleben die Zeit, denn Zeit rettet Menschenleben und Ressourcen.
Im August erzielte die Ukraine einen Überraschungserfolg mit dem Einmarsch in die russische Region Kursk. Eines der Ziele war die Entlastung der ukrainischen Truppen hier im Donbas. Hat es was gebracht?
Ich bin ein kleiner Fisch, Ziele einer solchen Operation werden mir nicht mitgeteilt. Bei uns sind die gegnerischen Angriffe seit einem halben Jahr stabil und intensiv. Ich sehe beim Gegner kein Defizit an Munition oder Personal.
Was wäre ein Sieg für Sie in diesem Krieg?
Die Grenzen von 1991 zu erreichen. Aber um das zu schaffen, müssen wir noch viel tun. Aber das ist realistisch. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir uns schneller verändern und besser werden. Und damit meine ich nicht nur die Armee: Es braucht einen umfassenden Ansatz, einen Willen zum Sieg im Staat und in der Gesellschaft. Dabei wird das Erreichen der Grenzen von 1991 noch nicht den endgültigen Sieg bedeuten. Es ist nur eine Etappe. Wir haben einen Gegner, gegen den wir seit 400 Jahren kämpfen. Und ich bin überzeugt, dass wir auch in Zukunft gegen ihn kämpfen werden. Russland und die Ukraine sind unversöhnliche Gegner. Russland will die Ukraine als Staat zerstören. Wir verteidigen ihn. Und das wird von Generation zu Generation weitergegeben. Wir werden erst dann in Sicherheit sein, wenn wir so stark sind, dass selbst ein Gegner wie Russland nicht einmal daran denken wird, gegen uns Krieg zu führen.