Die Tage, an denen Brigitte Bardot beim Festival von Cannes entspannt am Strand spazieren gehen konnte, sind längst vorbei. Heute, im 60. Jahr der wichtigsten Filmfestspiele der Welt, überwuchert eine Zeltstadt den Sandstreifen am Palmenboulevard La Croisette. Die mobilen Bauten schaffen Platz für den Filmmarkt, für Diners und Partys, Studios oder Bühnen. Wenn die Bardot oder ihre Nachfolgerinnen es jetzt trotzdem bis zum Meer schaffen würden, belagerten Dutzende, wenn nicht Hunderte von Fotografen jeden Schritt. Tief durchatmen und mit den Füßen im Wasser plantschen: unmöglich.
Das Festival von Cannes hat sich in den vergangenen sechs Jahrzehnten von einer feschen Feier der Cineasten-Familie zum gigantischen Branchentreff entwickelt. Zwei Wochen im Mai wird die kleine Stadt am Meer überschwemmt von Zehntausenden "Festivaliers". In den vergangenen Jahren stieg die Zahl der akkreditierten Journalisten auf über 4000. Sie mischen sich unter gut 22 000 so genannte Professionals, also Produzenten, Schauspieler, Verleiher, Autoren, Anwälte. Dazu kommen natürlich noch Filmfans, Touristen und die Menschen aus Cannes selbst, die - sofern sie nicht fliehen - entweder vom Rummel profitieren oder zumindest einen Blick auf den einen oder anderen Star vor dem Festivalpalais erhaschen wollen.
Glamour, Hype, Sex, Hektik
Das alles zusammen ergibt die Cannes-typische Mischung aus Glamour, Hype, Sex, Hektik und Gedränge. Doch dank etlicher Verjüngungskuren und regelmäßiger Face-Lifts gelingt der glitzernden Diva der Filmfestivals stets ein attraktiver Auftritt. Nur hat sie mit der Zeit kommerziellen Speck angesetzt. Gewaltige Werbeplakate verdecken den Blick auf die hübsche Fassade des Carlton-Hotels, die Sponsoren sind allgegenwärtig. Ob großes Hollywood, Porno oder Hongkong-Action: Filmfirmen nutzen den Marktplatz Cannes, um mit grellen Aktionen Aufmerksamkeit zu finden.
Dabei hatten die Festspiele einen eher bescheidenen Start: Der erste Versuch, 1939 einen Filmtreff an der Côte d'Azur nach dem Vorbild der schon 1932 gegründeten Mostra in Venedig zu organisieren, scheiterte am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Der Plan wurde dann 1946 in die Tat umgesetzt - mit dem damals 82 Jahre alten Cinématographie-Erfinder Louis Lumière als Jurypräsidenten. Im Wettbewerb lief Jean Cocteaus "Die Schöne und die Bestie", Billy Wilder zeigte "Lost Weekend" und Alfred Hitchcock "Berüchtigt" ("Notorious"). Preise wurden großzügig vergeben. Die Goldene Palme war noch nicht erfunden und die Veranstalter achteten sehr darauf, dass fast jeder Film irgendeine Auszeichnung mit nach Hause nehmen konnte.
Zwei Mal fiel es wegen Geldmangels aus
1948 und 1950 fiel das Festival wegen Geldmangels aus, um danach voll zu erblühen. Orson Welles, Federico Fellini, Louis Malle und Michelangelo Antonioni, Ingmar Bergman, Luchino Visconti oder Richard Lester gehörten zur Regie-Elite der frühen Jahre. Die erste Goldene Palme gab es 1955 für den Liebesfilm "Marty" von Delbert Mann.
Doch außer zu seinem Palmen-Logo fand Cannes in den 50er Jahren auch zu einem anderen prägenden Bilder-Klischee. 1954, während eines Fototermins mit dem US-Star Robert Mitchum am Strand, entblößte ein französisches Starlet plötzlich die Brüste. Mitchum sah amüsiert zu. Die junge Dame namens Simone Sylva brachte es zu kurzem Weltruhm und strippte sich zur Urmutter all der jungen Frauen, die sich hier "oben ohne" oder knapp bedeckt irgendwie "entdecken" lassen wollen.
68 brach die Revolution los
Nicht nur mit Sexappeal, auch mit Politik stieß Cannes auf größtes Medienecho. Ausgelöst durch eine umstrittene Personalentscheidung an der Festivalspitze und befeuert durch die Mai-Unruhen in Paris, brach 1968 auch fern von der Hauptstadt die Hölle los. François Truffaut, Jean-Luc Godard und andere Leitfiguren der "Nouvelle vague" erzwangen zuerst den Abbruch einer Vorstellung und später des ganzen Festivals.
Heute schreit niemand mehr "Skandal", wenn sich extrem ausgerüstete Porno-Stars am Sonntagnachmittag vor den Augen Eis essender Familien auf der Uferpromenade frei machen. Die Provokationen auf der Leinwand stoßen zumeist auf ein sehr gelassenes Publikum. Mit vielen Nebenreihen und Programmen für Kurzfilmer, Nachwuchsregisseure und junge Produzenten ist das Festival fast unüberschaubar üppig geworden. Ungerührt vom gigantischen Rummel drumherum besteht der langjährige Festivalpräsident Gilles Jacob auch zum 60. Geburtstag auf dem wichtigsten Grundprinzip der Festival- Diva: "Immer den Film in den Mittelpunkt unseres Handelns zu stellen."