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Cannes Tag 9 Gewissensbisse auf der Croisette

Schampus zum Film über Armut? Das glitzernde Leben auf der Croisette ist voller Widesprüche. Regisseure und Darsteller haben sich daran gewöhnt. Sie schlemmen Austern, glitzern um die Wette - und zeigen gute Filme.
Von Bernd Teichmann

So sicher, wie jedes Jahr die Goldene Palme verliehen wird, kriecht immer wieder der eine Gedanke, einer lästigen Regenwolke gleich, über die Croisette: Darf man sich das filmisch aufbereitete Elend dieser Welt anschauen und anschließend Austern schlürfen, Hummer knacken und Champagner kippen? Eine Frage, die angesichts der Naturkatastrophen in China und Birma eine besondere Brisanz erhält. Der deutsche Regisseur Andreas Dresen findet, dass es schon ein bisschen falsch sei, "in einem Raum voller Menschen in Smokings zu sitzen und sich einen Film über sozial Benachteiligte anzuschauen." Dresen ist mit der Senioren-Love-Story "Wolke 9" in der Reihe "Un Certain Regard" vertreten.

Festivaldirektor Gilles Jacob sieht das hingegen gelassener: "Jeden Tag passieren schlimme Dinge in der Welt, die du im Fernsehen siehst, während du gemütlich beim Abendessen sitzt. Würdest du da genau hinsehen, bekämst du keinen Bissen mehr herunter. Was also ist schlimmer? Weiter zu essen, während Menschen sterben oder über den roten Teppich zu gehen?"

"Danach braucht man halt einen Drink!"

Symptomatisch für dieses Dilemma ist die Aktion der chinesischen Schauspielerin Ziyi Zhang. Sie gründete spontan die Ziyi Zhang-Stiftung und bat um Spenden für die Erdbebenopfer in ihrem Land. Ort der guten Tat: das Zelt des Nobel-Juweliers Chopard am Strand des Noga Hilton. "Wenn du nach Cannes kommst und kein Glas Champagner trinkst, stimmt irgendwas nicht mit dir", sagt Regisseur Spike Lee. "Jemand, der einen Film über arme Leute, eine Tragödie oder was auch immer gedreht hat, verrät ihn bestimmt nicht mit dem, was er trinkt." Oder, um es mit Produzent James Schamus zu sagen: "Manche Filme sind so erschütternd, da braucht man danach halt einen Drink."

Womit wir auch schon beim Wettbewerb wären. Der präsentierte sich an diesem Tag vergleichsweise geschmeidig. Morgens ging es los mit "La frontière de l'aube" von Philippe Garrel, einer schwer kitschverdächtigen Romanze zwischen einer von ihrem Ehemann vernachlässigten Schauspielerin und einem Fotografen. Später folgte der Film "Adoration" von Atom Egoyan. Der kanadische Regisseur ist für fein ziselierte Psychogramme bekannt.

Realitätsflucht mit Folgen

In "Adoration" manövrierte uns Egoyan durchs Seelenleben eines Teenagers, der seine Eltern bei einem Autounfall verloren hat. Animiert von seiner Französischlehrerin, phantasiert sich der Junge zur besseren Trauma-Verarbeitung folgende Geschichte zusammen: Sein arabischstämmiger Vater versucht, seine nichts ahnende, schwangere Mutter als Selbstmord-Attentäterin nach Israel zu schicken. Was als harmlose Bewältigungsübung beginnt, entwickelt eine unangenehme Eigendynamik: Der Schüler stellt seine Story ins Internet und chattet darüber mit fragwürdigen Gestalten.

Erneut erweist sich Egoyan als versierter Stilist: Er kommt uns nicht schlicht linear, sondern legt seinen Plot komplex wie einen Rubik-Würfel an. Bei jeder Drehung kommen wir zwar der Lösung ein bisschen näher. Oft ächzen wir aber auch unter der schieren Bedeutungswucht des Ganzen: Rassismus, Kampf der Kulturen, die Gefahren des Internet. Bis das dunkle Familiengehemnis endlich Schicht für Schicht freigelegt ist.

Comeback der Italiener

Schnell die Schwermut verscheucht mit einem Kapsel-Espresso am Stand eines der Festival-Sponsoren, fädeln wir uns wieder ein in die kilometerlange Warteschlange vor dem Salle Debussy. Die Tatsache, dass der nächste Wettbewerber aus Italien kommt, haben wir bereits verdrängt. Italien ist seit einigen Jahren für das internationale Kino so bedeutend wie Andorra für die Popmusik. Eine Stunde später jedoch das Unfassbare: "Il Divo" verursacht keinen Fluchtreflex. Er ist witzig, clever, böse und originell. Verantwortlich dafür ist der sizilianische Regisseur Paolo Sorrentino, der bereits zum dritten Mal in Cannes auf Preisjagd ist.

In 117 Minuten versucht er das politische Faszinosum Giulio Andreotti zu erklären. Dieser ist seit über 50 Jahren eine der Schlüsselfiguren der italienischen Politik. Sieben mal war er Regierungschef, bekleidete insgesamt 25 Ministerämter. Wie kein anderer steht der fast 90-Jährige für die moralische Versumpfung seines Landes. Für die Kumpanei zwischen Politik, Wirtschaft, Kirche und Mafia. Jeden Verdacht, jede Anklage, jeden Prozess hat er schadlos überstanden, sei es Korruption, Konspiration oder der Ermordung unbequemer Gegner.

Sorrentino porträtiert Andreotti als gefühllosen Zombie ohne Eigenschaften, dessen einzige Existenzberechtigung die Erhaltung der eigenen Macht ist. Gekonnt wechselt er dabei zwischen absurder Satire und rasantem Polit-Thriller. "Du lebst länger ohne Bedürfnisse", sagt Andreotti an einer Stelle zu seiner Frau und blickt wie ein unter Valium stehender Bernhardiner ins Leere.

Gespielt wird Andreotti vom neapolitanischen Theater-Star Toni Servillo. Für seine Rolle hat dieser sich ganz offensichtlich von Max Schrecks Nosferatu, den britischen Puppen-Karikaturen "Spitting Image" und dem Gastro-Kritiker Anton Ego aus dem Pixar-Spaß "Ratatouille" inspirieren lassen. Nun ist er einer der klaren Favoriten für den Darsteller-Preis.

Darauf wollen wir anstoßen mit einem Gläschen Champagner. Guten Gewissens natürlich.

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