Liebe ist eine Naturgewalt. Wenn sie einen erwischt, dreht sie nicht nur Kopf, Herz und Magen, manchmal dreht sie einem gleich das ganze Leben um. Liebe ist höchstes Glück, tiefster Schmerz, leidenschaftlicher Wahnsinn. Und glaubt man der schreibenden, komponierenden und filmenden Zunft, ist sie spätestens mit 50 vorbei. Dann ist die Naturgewalt ein kultiviertes Stück Wald mit Zaun, einheitlicher Baumhöhe und akkurat gestutzen Blaubeerbüschen. Wenn man sich in der Mainstreamkultur umguckt, scheint für Alte - bis auf wenige Ausnahmen und natürlich den Klassiker des alten Mannes mit Porsche-Freundin - kein Platz auf Wolke sieben. Dank Andreas Dresen haben sie es nun aber sogar auf "Wolke 9" geschafft.
So heißt der neue Film vom "Sommer vom Balkon"-Regisseur, der aufräumt mit dem Klischee, dass alte Menschen nur noch Händchen haltend auf Parkbänken sitzen, anstatt sich im Hausflur an die Wäsche zu gehen. "Wolke 9" zeigt von Anfang an, dass die Macht des Gefühls keine Frage des Alters ist. Und die Kamera geht ziemlich nah ran.
Seitdem der Film beim Festival in Cannes Premiere feierte, ist er ein Aufreger. Dresen habe mit seiner Liebesgeschichte zwischen einer Ende 60- und einem Anfang 70-Jährigen ein Tabu gebrochen, heißt es. Das sieht der Filmemacher im Gespräch mit stern.de genauso.
Herr Dresen, dieser Film war fällig, oder?
Ich finde auch, dass es fällig war, über diese Generation mal anders zu erzählen. Frei von dem Sepia-Kitsch, den man der älteren Generation immer so überstülpt. Außerdem werden die Leute in unserer Gesellschaft sowieso immer älter. Trotzdem gesteht man ihnen ab einem bestimmten Punkt im Leben weder Leidenschaft, noch Sex, noch sonst eine Art von Lebendigkeit zu. Außer dass sie immer höhere Renten fordern. [lacht] Das finde ich ziemlich bekloppt, ehrlich gesagt. Aber nicht nur deswegen wollten wir den Film gerne machen: Ich finde auch, dass es eine schöne Liebesgeschichte ist, die sich zuspitzt durch das Alter der Protagonisten.
Gab es einen konkreten Auslöser für "Wolke 9"? In ihrem Film "Sommer vom Balkon" gibt es ja schon diese schöne Szene, wo die alte Frau sagt: "Wenn mein Gesicht doch noch so glatt wär wie mein Arsch", und die junge Frau antwortet...
"Haste Deinen Arsch aber lange nicht gesehen..." [lacht] Die Initialzündung war schon vor ein paar Jahren, als ich den Dokumentarfilm eines belgischen Freundes gesehen habe. Der heißt "Die Männer meiner Oma". Der erzählt 20 Minuten über seine Oma, die in Gera lebt, die 76 ist und über die Männer ihres Lebens erzählt. Über den Sex, den sie mit denen hatte, und auch über ihr jetziges Sexleben. So was wie: "Wenn ich von meinem Arzt komme, masturbiere ich, weil ich den ganz toll finde." Das macht sie mit einem Humor und einer Chuzpe, da war ich platt. Seitdem habe ich über diese absurde Situation nachgedacht: Als ich 16 war, konnte ich mir nicht vorstellen, dass meine Eltern, die damals so alt waren wie ich jetzt, überhaupt Sex haben. Ich fand das irgendwie ein bisschen ekelig, mir das vorzustellen. Und jetzt ist das immer noch in den Köpfen drin - bei der älteren Generation und natürlich der ganz alten Generation. Das ist jenseits der Fantasie. Und das ist doch eigentlich seltsam. Da habe ich gedacht, man müsste mal einen Film mit alten Protagonisten machen, aber die Geschichte so erzählen, wie es auch bei Jungen abläuft.
Tut es das denn?
Das war ja das Schöne: Als wir mit den alten Schauspielern improvisiert haben, sind die gleichen Dinge passiert wie bei jungen Leuten. Die bekloppten Argumente, die der Betrogene im Streit aus der Tasche zieht, die waren nicht abgesprochen. Ich hab zu ihm gesagt: "Tut mir leid, Horst, aber du redest wie so'n beleidigter, frustrierter, machohafter Teenager." Ist doch interessant, dass man auch da nicht reifer wird. Auch nicht mit 70.
Ist die Weisheit des Alters eine Illusion?
Die Reife, ja. Man selbst hat ja nicht das Gefühl, dass man in irgendeiner Art eine Form von Reife gewinnt. In meinem Film "Whisky mit Wodka" sagt eine Figur den schönen Satz: "Man wird nicht älter, eines morgens ist man alt". Das bringt es ganz gut auf den Punkt. Das Gefühl des Altseins geben einem andere.
Die vieldiskutierte Sexszene in "Wolke 9" kommt ziemlich früh...
Ich wollte die noch vorm Vorspann, damit alles sofort klar ist, der war von Anfang an so gedacht. Die Leute, die von dem Film gehört haben, werden wissen, dass da in irgendeiner Form Sex zwischen alten Menschen vorkommt. Ich hatte keinen Bock, so'ne Kennenlern-Geschichte zu erzählen, und das Publikum sitzt da und denkt "Ja, wann passiert es denn? Und wie wird es denn passieren? Und wie weit werden die denn gehen?" Nee, das muss sofort erledigt sein, und dann kann man sich auch auf die eigentliche Geschichte konzentrieren. In der geht es ja nicht nur um Sex, sondern um ganz andere Dinge.
Gab es nicht Hemmschwellen zu überwinden?
Die Schauspieler hatten keine Hemmungen. Wir haben auch von Anfang an darüber gesprochen. Die wollten den Film ja auch machen, weil er eben überfällig war. Es ist ein Teil ihres Lebens: Horst Westphal wird jetzt 79 und hat einen 17-jährigen Sohn. Die stehen alle im Leben. Die Nacktszenen waren dann letztlich viel weniger kompliziert zu drehen als beispielsweise diese nächtliche Streitsituation. Seelische Nacktheit ist viel schwerer zu zeigen als physische Nacktheit.
Gab es Eitelkeiten?
Überhaupt nicht. Das war völlig egal. Die haben sich sofort bei der ersten Probe ausgezogen. Ich hasse nichts mehr, als diese unkonkreten Sexszenen, wo man nur so allgemein Sex sieht: allgemeines Gestöhne, allgemeine Hände auf Haut. Ich wollte, dass man zu jedem Zeitpunkt genau sieht, was passiert, wenn jemand stimuliert wird, ohne dass man es nun ganz direkt zeigt. Aber es fiel mir nicht leicht, dafür einen Ton zu finden! Das war schon eine Hemmschwelle, die ich überwinden musste.
Glauben Sie, dass sich das Verhältnis unserer Gesellschaft zum Alter ändern wird?
Ich hoffe, dass sich das ändert. Nicht wegen des Films - das kann ein Film nicht schaffen - aber da die Menschen nun mal älter werden, müssen sie lernen, damit umzugehen. Wir sollten keine Angst haben. In unserer Religion hat Tod auch was mit Sühne zu tun. Im Zentrum ist eine Leidensszene, eine Folterszene, man geht in die Kirche rein und ist bedrückt. In anderen Ländern, in Lateinamerika zum Beispiel, wird die gleiche Religion auf eine ganz andere Art gelebt. Der Tod ist verbunden mit einem Riesenfest, da ist dieser Teil des Lebens nicht mit Düsternis belastet. Ich glaube, weil wir uns so schwer tun, uns der Frage des Sterbens zu nähern, haben wir auch ein Problem mit dem Älterwerden - ein Kernproblem der westlichen Gesellschaft. Älterwerden ist nichts per se Furchtbares. Es hat auch seine befreienden Seiten: Ich habe ganz viele Erfahrungsberichte von älteren Leuten gehört, die beschreiben, dass sie erst im höheren Alter überhaupt Sex für sich so richtig entdeckt haben. Die Leute merken dann plötzlich, dass sie eine ganz andere Freiheit im Umgang mit ihrem Körper haben. Und dann wird auch das Verhältnis zu Sex entspannter.