Anton Corbijn ist ein eigenwilliger Ästhetiker, ein Kind der achtziger Jahre. Seine grobkörnigen Schwarz-Weiß-Fotos und -Videos von Pop-Heroen wie Bono oder Kurt Cobain und Bands wie U2 und Depeche Mode haben erst die Musiker und dann auch ihren Fotografen weltberühmt gemacht. Der intensive Blick auf die Künstlerpersönlichkeit ist die Spezialität des zurückgezogen lebenden Niederländer, der um seine Person nie viel Aufhebens macht.
Seine virtuose Bildsprache ist über die Jahre aktuell geblieben. Heute treten junge Bands wie The Killers oder die schwedische Sängerin Sophie Zelmani mit Freuden vor seine Kamera. Der Traum eines jeden Fotografen bleibt allerdings der eigene Film. Und häufig erfüllt er sich für die Zuschauer mit Gewinn, wie die Beispiele von David Fincher oder Michel Gondry zeigen. Nun hat sich auch Anton Corbijn diesen Traum erfüllt und eine großartige Symbiose seiner Ästhetik und einer packenden authentischen Geschichte hingelegt.
Nicht nur für Pop-Nerds
In seinem Regiedebüt "Control" geht es natürlich um Musik, was sonst. Thema ist das kurze wie bewegte Leben von Songschreiber und Sänger Ian Curtis (1956-1980), den Corbijn bei einem seiner ersten Jobs fotografierte. In den späten siebziger Jahren verhalf Curtis einer düsteren Musikerclique namens Joy Division im grauen Manchester zu kurzem Glanz. Doch der schnelle Ruhm und die Erwartungen der Musikindustrie hielten nicht Schritt mit dem empfindsamen Nervenkostüm des Sängers. Familienkrisen, der Ausbruch der Epilepsie gepaart mit massiver Erschöpfung und Suchtmittelgebrauch trieben den Sänger schließlich am Vorabend der ersten großen US-Tournee im Alter von gerade mal 23 Jahren zum Selbstmord. Eine der großen Tragödien der Musikgeschichte.
Für das Drehbuch bediente sich Corbijn teilweise aus der Biografie "Touching from a Distance", von Curtis' Witwe Deborah, die den Film auch mit produziert hat. Dazu kamen Gespräche mit Weggefährten und auch Erzählungen der Curtis-Geliebten Annik Honoré, die sich erstmals öffentlich über die Zeit geäußert hat.
Zerrissenheit des Underdogs
Natürlich ist Corbijns Interesse an der Band nicht nur rein professionell. Joy Division, die Musik an der Schwelle vom Glamrock zu Punk und Electro, habe seinerzeit entscheidende Pfeiler seiner Begeisterung für Popmusik in den Boden gerammt, so der Regisseur. Um so erstaunlicher, dass "Control" kein Dokument blinder Huldigung wurde, auch kein Insiderfilm für Pop-Nerds, sondern ein aufschlussreiches Drama über einen Mann, der tragisch am eigenen Talent und Leben gescheitert ist.
Im nordenglischen Kaff Macclesfield wächst Curtis als versponnener Träumer auf, der nachmittags in seinem winzigen Jugendzimmer Songs textet und vor dem Spiegel David-Bowie-Posen übt. Bei seiner Jugendliebe Deborah findet er Verständnis. Schnell heiratet das blutjunge Paar.
Der Besuch eines Sex-Pistols-Konzerts bringt die entscheidende Wende in Curtis' Leben: Mit ein paar Freunden gründet er das Bandprojekt Joy Division und prägt den Sound der Band fortan mit seinem düster-monotonen Gesang und seinen existentialistischen Texten. Schon bald wird Labelboss Tony Wilson auf die jungen Talente aufmerksam und treibt die Karriere der Musiker voran.
Dünnhäutiges Genie
Angemessen verkörpert der noch weitgehend unbekannte Sam Riley die Zerrissenheit des Underdogs und das dünnhäutige Genie, aber auch die düstere Verlockung der Selbstzerstörung, der Curtis vor allem nach dem Ausbruch seiner Epilepsie mehr und mehr erlag. Zu den finsteren Klängen von "Love Will Tear Us Apart" leben sich Ian und Deborah, die mittlerweile eine Tochter haben, langsam wie quälend auseinander.
Eindrucksvoll, wie Samantha Morton die Jugendliebe als tapfere Arbeitersfrau in Küchenschürze markiert. Schlicht im Gemüt, aber edel und gut im Herzen. Sie kann nicht verhindern, dass Curtis dem unterwürfigen Charme der belgischen Journalistin Annik Honoré verfällt, die ihn fortan regelmäßig auf Tour begleitet. Bei Alexandra Maria Lara bleibt die neue Muse leider ein etwas eindimensional zu Schwärmerei neigendes Groupie.
Privates Seelendokument
Die persönliche Tragödie verbindet Corbijn gekonnt mit Blicken hinter die Kulissen der jungen, aufsteigenden Band sowie mit Bildern von eindrucksvollen Liveauftritten, die bis auf zwei auch leibhaftig performt werden. Damit schafft er einen Film, der als privates Seelendokument genauso funktioniert wie als erhellendes Stück Popgeschichte und natürlich visuell höchste Ansprüche erfüllt. Für sein gelungenes Debüt konnte Corbijn bereits die Camera d'or in der mention spéciale der Filmfestspiele von Cannes, den Preis als bester britischer Film beim Edinburgh International Film Festival und Preise für den besten Film, besten Regisseur und gleich drei Schauspieler bei den British Independent Film Awards einstreichen.
Als Kenner der Musikszene hat Corbijn auch einen erstklassigen Soundtrack zusammengestellt, auf dem neben etlichen Joy-Division-Klassikern Stil prägende Arbeiten von David Bowie, Velvet Underground, Roxy Music und Kraftwerk zu hören sind. Mit "Control" reiht sich Corbijn bestens ein in die Reihe jener Fotografen, die sich nicht nur rein zufällig ins Filmfach verirrt haben.