Tag 1 Politik dominiert über Savoir-vivre

Es lag nicht nur am unfreundlichen Wetter: Am Eröffnungstag der Filmfestspiele in Cannes trat südfranzösische Leichtigkeit des Seins zugunsten von knallharter Politik in den Hintergrund.

Der Himmel ist grau, es regnet Bindfäden, eine kühle Brise leert die Straßencafes. Kaum zu glauben, dass wir nicht in Hamburg sind, sondern an der Côte d'Azur, auf dem wichtigsten Filmfestival der Welt. Bei derart tristem Maiwetter fällt es nicht schwer, sich am ersten Cannes-Tag mit einem nicht minder tristen Sujet zu beschäftigen: der Politik. Noch vor der offiziellen Eröffnung am Abend, noch vor den ersten Minuten Leinwandeinsatz des lang erwarteten neuen Films von Pedro Almodóvar hat sich eine politische Ernsthaftigkeit über Cannes gelegt, die selbst die südfranzösische Leichtigkeit des Seins für einen Moment in den Hintergrund treten lässt.

Politik-Thema Nr. 1: Die Proteste der "intermittents du spectacle". Das sind Saisonarbeiter, die in Frankreichs Unterhaltungsindustrie tätig sind, vom Techniker bis zum Produktionsleiter. Offensichtlich will ihnen die Regierung Steuervorteile kürzen, aber so genau blickt da niemand durch. Schon im Vorfeld hatten die "intermittents" den Transport von Filmrollen behindert. Nun forderten sie öffentliche Redezeit auf den Stufen des Festivalpalais, drohten mit Streik, Behinderungen, Ärger. Eilig wurde hinter geschlossenen Türen beraten, sogar die Wettbewerbs-Jury, dieses Jahr unter der Leitung von Querkopf Quentin Tarantino, redete mit den Betroffenen. Man einigte sich auf eine Pressekonferenz und eine Demo am Strand. Der Bürgermeister von Cannes organisierte schon vorher eine Gegendemonstration. Motto: "Vive le Festival". Sie gehen offensichtlich gern auf die Straße, die Franzosen.

Action am Flughafen

Politik-Thema Nr. 2: Sicherheit. Nach den Bombenattentaten von Madrid herrscht auch in Frankreich erhöhte Alarmbereitschaft. Um das Giganto-Event "Cannes 04" zu schützen, sind in der Kleinstadt mehr als 1000 Polizisten unterwegs, zum Teil beritten. Beim Eingang in die Kinosäle wird jede Tasche untersucht, Metalldetektoren tasten die Besucher ab. Am Flughafen von Nizza wurde kurzerhand ein allein gelassener Schalenkoffer gesprengt. Bloß kein Risiko eingehen.

Quentin, der Pirat

Politik-Thema Nr. 3: Piraterie. Einen Tag vor Festivalbeginn diskutierten früher angereiste Filmbosse und Filmemacher über das derzeitige Lieblingsthema der Industrie. Nur doof, dass der ebenfalls eingeladene Tarantino zugab, selbst illegal kopierte chinesische Filme anzuschauen, die er sonst nirgends bekommen hätte. Eigentor nennt man das wohl.

Stylisches von Almodóvar

Angesichts des gesammelten politischen Ballasts wäre es ein Leichtes, den Eröffnungsfilm ebenfalls als Politvehikel abzustempeln. Schließlich geht es in "La Mala Educación - Schlechte Erziehung", der bei uns Ende September startet, um den Mißbrauch von Kindern durch Priester in einem katholischen Internat. Aber so einfach macht es uns Almodóvar nicht. Er webt drei Geschichten ineinander, lässt die Lebensläufe von mehreren Männern aufeinanderprallen (die einzige wichtige Frau, die auftritt, ist keine) und serviert eine stylische Mischung aus Melodrama und Film Noir. Almodóvar bei der Pressekonferenz: "Das ist kein antiklerikaler Film. Das muss er auch gar nicht sein, denn der schlimmste Feind der Kirche ist die Kirche selbst". Gut gegeben, Pedro.

Und auch Tarantino wollte in seinem ersten Gespräch mit den Journalisten nichts mehr von den schweren Themen hören: "Wissen Sie, wir sollten das Politische nicht zu ernst nehmen. Eigentlich kommt es doch in den nächsten Tagen nur auf eines an: Ob uns die Filme gefallen, die wir sehen." Klingt wie ein super Cannes-Motto.

Matthias Schmidt

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