Wer dachte, die Zeiten, in denen Farbe den sozialen Status bestimmt, wären vorbei, muss nur nach Cannes reisen. Was nicht heißen soll, dass hier sämtliche Hoteldiener, Putzfrauen oder Müllfahrer aus Schwarzafrika oder anderen französischen Kolonien importiert wurden. Die Rede ist von einem kleinen Plastikkärtchen, das allen akkreditierten Journalisten um den Hals baumelt. Diese Ausweise, selbstredend versehen mit einem Passfoto, gewähren Einlass in die Vorstellungen, die Pressekonferenzen, den Computerarbeitsraum. Mit ihnen öffnet man seine Box, eine Art Briefkasten, jeden Morgen randvoll gestopft mit Infos über die Filme und ihre Macher. Mit ihnen kommt man an den überall postierten finster blickenden Aufpassern vorbei, für die es irgendwo in dieser Kleinstadt ein Nest geben muss. Oder ein Finsterblicker-Klonlabor.
Welt der Farbpalette
Nun gibt es nicht nur einen Typ Ausweis, sondern eine ganze Farbpalette. Die Schreiberlinge, deren Meinung wahrscheinlich keinen Pfifferling zählt oder die für sagen wir mal ein bulgarisches Online-Magazin arbeiten (soll es wirklich geben), bekommen einen Blauen oder einen Gelben. Diejenigen, die bei wichtigeren Publikationen ihre Brötchen verdienen (was nicht implizieren soll, dass ein bulgarisches Online-Magazin nicht unschätzbare Dienste für die internationale Sensibilisierung für die schönen Künste leistet), bekommen einen Rosafarbenen. Und die, die seit Jahren, ach seit Jahrzehnten ihr Jahresgehalt für ein lausiges Hotelzimmer zur Festivalzeit an der Côte d'Azur verjubeln, die möglicherweise entweder in einer der vielen Jurys sitzen oder schon mal eine Weinprobe mit einem der Festivalchefs durch gestanden haben, die bekommen einen Weißen.
Rosa, aber ohne Punkt
Wir haben einen Rosafarbenen, also eigentlich eine ordentliche Ausgangsposition. Falsch gedacht. Es existieren nämlich auch noch rosafarbene Ausweise mit einem gelben Punkt, die noch wichtiger sind. Aber nicht so wichtig wie die Weißen. Aber wichtiger als die Blauen. Und wahrscheinlich gibt es auch noch Hornhautumbrafarbene, bei deren Anblick die Finsterblicker plötzlich in ein herzliches "Comment ça va?" einstimmen. Und noch Bordeauxkorkenbeige mit denen selbst zweieinhalb Stunden Dokumentarfilme über Weinbau (gibt es wirklich) wie im Fluge vergehen.
Nix mit Pitt
Wir wollten jedenfalls rosabehängt aber gelbpunktlos zur Pressekonferenz mit Brad Pitt. Zeitung gekauft, 45 Minuten vorher angestellt, nicht rein gekommen. Viele Weiße und Rosagelbgepunktete haben wir lächelnd entspannt an uns vorbeigehen sehen müssen. Die Pressekonferenz im Fernsehen verfolgt, geschmollt. Finster zurück geblickt.
Vor lauter Frust geht man danach eben nicht in den palästinensischen Familienfilm oder den venezolanischen Kurzfilm aus dem offiziellen Programm, sondern lieber auf eine der Veranstaltungen, zu der man persönlich eingeladen wurde. Ego schmeicheln. Auch wenn der präsentierte Film erstens überhaupt nichts mit dem Festival zu tun hat und zweitens noch nicht mal fertig ist: "Shark Tale". Nach "Shrek" und "Shrek 2" die neue computeranimierte Komödie aus dem Hause Dreamworks. Vorgestellt von Jack Black, Will Smith und Angelina Jolie, die dem englischen Original ihre Stimmen leihen.
Ride my Shark
Es geht um Haie und andere Unterwasserlebewesen, kommt aber erwachsener und weniger naturalistisch daher als "Findet Nemo". Um nur eine Wal-Waschanlage oder eine Seepferdchen-Rennbahn als Beispiele zu nennen. Und weil man sich in Cannes gerne mal zum Paparazzi-Affen macht, kletterten am Ende Black, Smith und Jolie auf einen aufgeblasenen Gummi-Hai und ließen sich durch die Bucht ziehen. Sehr spaßig. Doch auch bei so einem Spitzen-Event mit lauter A-Promis ist man umgeben von Blauen und Gelben. Und wahrscheinlich arbeitet die Frau da mit ihrem weißen Ausweis für ein bulgarisches Lokalradio. Die Welt wird immer kleiner.
Matthias Schmidt