Worum geht es in "Ikarien"?
Der Klappentext lockt einen in die Irre, wenn er die Handlung auf das Abenteuer eines 25-jährigen US-Geheimdienstmitarbeiters bei der Aufdeckung eines "faustischen Paktes" verdichtet. Wer nun einen packenden Geheimdienstthriller im gerade zusammengebrochenen Deutschland des Frühsommers 1945 erwartet, wird enttäuscht. "Ikarien" ist ein vielschichtiger Roman über den Nazi-Rassenwahn, die Sehnsucht nach einer gerechten, doch am Ende utopischen Gemeinschaft und den Neustart in Deutschland. Doch der Reihe nach.
Der Geheimdienstler heißt Michael Hansen. Er ist in Hamburg geboren, mit Zwölf mit den Eltern nach der Machtergreifung der Nazis in die USA ausgewandert und kehrt nun als Soldat unmittelbar nach der Kapitulation nach Deutschland zurück. Sein Auftrag: Herausfinden, wie die deutschen Ärzte und Forscher dem Rassenwahn anheimfallen und mit unvorstellbarer perverser Kälte in die Tat umsetzen konnten. Im Zentrum seiner Arbeit steht der Eugeniker Alfred Ploetz, der als Chef-Rassenhygieniker den Grundstein der Nazi-Ideologie vom Herrenmenschen legte.
Ploetz verstarb bereits 1940, doch Hansen macht einen seiner Wegefährten Karl Wagner ausfindig. Jahrelang hatte sich der Dissident im Keller eines Antiquariats vor den Nazi-Schergen versteckt. Ausgerechnet der aufrechte Wagner spricht im Verhör stellvertretend für "seinen Freund" über "Brutpflege", "Rassenaufzucht" und "Aussortieren unerwünschter Eigenschaften durch bewusste Gattenwahl".
Was auf den ersten Blick absurd klingt, ist es nicht. Denn beide Männer begeisterte am Ende des 19. Jahrhunderts die Vorstellung einer gerechten Gesellschaft unter Gleichen, wie sie der französischen Sozialrevolutionär Étienne Cabet 1840 skizziert hatte. Er nannte die utopische Gemeinschaft Ikarien. Im Unterschied zu Wagner dachte Ploetz diese Gesellschaft jedoch weiter: Er wollte den passenden "schönen" Menschen zu dieser überlegenen Gesellschaft formen - durch Züchtung. Ploetz verstieg sich in diese Idee bis zu der Forderung, kein Mitleid beim Aussortieren unerwünschter Erbeigenschaften walten zu lassen. Während sich Wagner von seinem Freund abwendet, findet dieser eine neue ideologische Heimat bei den Machthabern in der Reichskanzlei. Der Rest ist Geschichte.

Hansen streift durch die Trümmer dieser weggebombten Herrenrassen-Gesellschaft, deren Jugend von der amerikanischen "Coolness" praktisch im Handstreich für sich eingenommen wird. Das lässige Auftreten der amerikanischen GIs, die Hände in den Hosentaschen und immer einen Streifen "chewing gum" dabei. So sieht der erfolgreiche Gegenentwurf zum Nazi-System aus. Am Ende schlägt das Kaugummi den germanischen Überlegenheitswahn. Hansen wird Zeuge der Stunde Null, des Zusammenbruchs des Alten und des Aufbruchs einer jungen Generation in eine noch unbekannte Zukunft. Fast alles ist in diesen Monaten erlaubt, und so geht es neben dem Abtauchen in den Wahnsinn der Rassenhygiene und entsetzlicher Menschenversuche auch um Sex mit den "Fräuleins", Schwarzmarkt, Swing und ein für die Deutschen völlig neues Lebensgefühl. Und auch Hansen steht am Ende vor einer Entscheidung: Bleiben oder wieder gehen?
Wer spricht?
Der begnadete Ulrich Noethen hat das Buch eingesprochen. Ein solches Stimm- und Schauspielkaliber ist auch notwendig, denn "Ikarien" ist ein Buch aus Versatzstücken. Mal erzählt Hansen locker aus seinem amourösen Alltag in der Trümmerlandschaft, mal werden Abschnitte aus Tagebüchern eingestreut, unterbrochen von den seitenlangen Verhörprotokollen, in denen ein am Ende des 19. Jahrhunderts sozialisierter Mann ein altmodisch verschachteltes Deutsch spricht. Noethen führt den Hörer sicher durch diesen schwierigen Parcours.
Was stört?
Wie so häufig ist das zentrale Thema bei Timm die Aufarbeitung seiner eigenen Familiengeschichte im Nationalsozialismus. In seinem wohl bekanntesten Werk "Am Beispiel meines Bruders" setzte er sich mit seinem Bruder auseinander, der sich freiwillig zur Waffen-SS meldete. In "Ikarien" nimmt Timm sich den Großvater seiner Frau vor: Alfred Ploetz, den Chefideologen der Rassenhygiene im Dritten Reich. Timm hat derart detailreich recherchiert, dass er die Fülle des Materials mit spürbarem Druck in die Handlung presste. Die vielen Fakten, Personen, historischen Begebenheiten und zahlreichen Nebenhandlungen verlangen echte Konzentrationsarbeit vom Zuhörer. Gelegentlich droht gar Arbeitsüberlastung. "Ikarien" duldet keine Unaufmerksamkeit. Etwas mehr Luft wäre schön gewesen, die bleibt einem unter der Last des Themas ohnehin häufig genug weg.
Für wen ist das Hörbuch geeignet?
Leichte Unterhaltung ist "Ikarien" sicher nicht. Der Roman spricht Hörer an, die Freude an der Auseinandersetzung mit deutscher Zeitgeschichte haben und sich selbst die Frage stellten, wie Menschen der Ideologie des unbarmherzigen Rassenwahns folgen konnten. Ein Hörbuch, das einen noch lange nach dem letzten Kapitel beschäftigt. Denn eines wird im Roman immer wieder deutlich: Der Rassegedanke mit all seinen Abarten lebt bis heute weiter, ganz gleich in welcher Gesellschaftsform und keinesfalls nur auf den "alten weißten Mann" beschränkt.