Was wird aus einer Kinderbuchheldin, wenn sie einmal groß ist? Diese Frage stellen sich viele Kinder. Dass sie später mit zwei anderen Heldinnen eine Orgie feiern wird, kommt ihnen nicht in den Sinn.
Genau darum geht es in Alan Moores heftig umstrittenen Comic "Lost Girls", der zurzeit auf der größten deutschen Comic-Messe "Comic Salon" vorgestellt wird. Oralsex, Analsex, Onanie. Von oben, von unten, von hinten: In kunterbunten Farben versuchen die Autoren Alan Moore und Melinda Gebbie den Leser zu erregen. Die Geschichte: Die mittlerweile erwachsene Wendy Darling aus dem Kindermärchen "Peter Pan" trifft auf Dorothy Gale aus "Zauberer von Oz" und Alice aus dem Wunderland. Eine Orgie beginnt. "Lost Girls" ist ein Porno und will es auch sein.
Das Märchen von Peter Pan entschlüsseln
Bereits Mitte der Neunziger Jahre veröffentlichten Moore und Gebbie ihren Comic in den USA. Dort hatte sich Alan Moore durch seine Comics "From Hell" oder "Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen" einen Namen gemacht. "Lost Girls" löste dagegen heftige Debatten aus. Bis heute meinen Kritiker, das Werk ziehe die Unschuld des Kindermärchens Peter Pans durch den Kakao. Die Autoren wehren sich gegen die Vorwürfe. Ihnen gehe es um eine Entschlüsselung der Geschichte. In Peter Pans "Nimmerland" können die Kinder fliegen. Folgt man Sigmund Freuds Traumdeutung, lässt das auf sexuelle Regungen schließen. "Die drei Mädchen sind nun Symbole für die Art, wie Menschen mit Sex in Berührung kommen", sagt Alan Moore. "Sexuelle Reife ist ein Markstein des Erwachsenwerdens."
Mit dieser Idee im Kopf entwickelte Moore die Kinderbuchcharaktere weiter. Dorothy ist selbstbewusst, wie im Kampf gegen die Hexe des Westens. Wendy ist schüchtern und Alice stammt auch in Moores Comic aus einer noblen Familie. Auch wichtige Motive der drei Erzählungen tauchen in "Lost Girls" auf: In ihren jeweiligen Romanen finden sich die Mädchen in einem fremden, unbekannten Land wieder (Nimmerland, Wunderland, das Land hinterm Regenbogen). In Moores Comic erkunden sie auf einem sexuellen Selbstfindungstrip neue und fremde Ufer. Der Wirbelsturm, der Dorothy in "Der Zauberer von Oz" wegträgt, taucht in deren Inneren auf, während sie masturbiert. Und Peter Pan wird als Wendys Lover dargestellt, ohne grüne Leggins, dafür mit sehr viel Sperma.
Mehr über den Comic
"Lost World", Alan Moore und Melinda Gebbie. 3 Bände, 336 Seiten. Erschienen im Cross Cult Verlag, 75 Euro
<Kunst oder Trash?> Gerade der darstellerische Aspekt seiner Arbeit war Moore wichtig. Mainstream-Porno finde er beschämend und unästhetisch, betont der Autor immer wieder. Er habe der Sexualität eine ihr angemessene künstlerische Form geben wollen. So entstand vor 18 Jahren die Idee, einen anspruchsvollen Porno-Comic zu zeichnen. Ist das gelungen? Oder ist "Lost Girls" bloß kunterbunter Trash? Zugegeben: Wer einen Erotikband mit intelligenten Dialogen erwartet, kommt nicht auf seine Kosten. Die Dialoge sind zwar sensibler, sonst aber genauso platt und gewollt zweideutig. "Komm mir nicht zu nah, sonst mach ich dich ganz feucht, äh, nass!" – Sätze wie dieser stammen sonst aus zotigen Trash-Streifen.
Dennoch sollte man "Lost Girls" nicht unterschätzen. Die drei Frauen sind Akteure und nicht passive "Lustpuppen". Auf ihre Geschichten und Hintergründe wird Wert gelegt – genau wie auf ihre Orgasmen. Mit einem "Rein-raus-bück-dich-Porno" hat das nichts zu tun. Die Bilder sind weich, selbst die Kulisse romantisch und märchenhaft. So betten die Autoren die Lust in einen ihr angemessenen Kontext ein: ein Wunderland. Orgie hin oder her.