Zugegeben, ich habe eine Schwäche für Nahrung. Außerdem ist ein Restaurant eine Streuobstwiese menschlicher Absonderlichkeiten. Die Episoden fallen dir direkt in den Schoß. Ein guter Ort für jeden, der mit dem Schreiben sein Geld verdient. Ich gehe also mit meinem Freund Oliver Polak, dem Autoren und Co-median, essen. Berlin, Stammitaliener. Die Hütte ist voll. Viele fröhliche Menschen unter einem Dach. Hinten an der Wand sitzt man so eng beieinander, dass man mit dem fremden Tischnachbarn bequem Sitzlambada tanzen kann.
Oli und ich unterhalten uns angeregt, lediglich das Essen ist für meinen stumpfen Gaumen etwas unterwürzt, sodass ich mir vom Nebenmann Pfeffer und Salz borge. Und weiterrede. Über den Brexit und wie absurd das von unseren britischen Nachbarn ist. "Wo bleibt da der europäische Gedanke" und so.
"Ach, das Salz wollten sie mir nicht wiedergeben, was?!"
Da spüre ich erhöhte Nervosität zu meiner Linken. Ein zorniges Murmeln, das sich schnell zu einer vorwurfsvollen Frage auswächst. "Ach, und das Salz wollten Sie mir nicht wiedergeben, was?!" Bitte? Bislang war ich nicht dazu gekommen, mir den Fremden in meinem toten Winkel genauer anzusehen: ein verhärmter Mittvierziger, optisch irgendwo zwischen Thomas Tuchel und dem Typen, der in dem Film "Sieben" im Bett unter den Wunderbäumen lag. Er bebt ob des Salz-Diebstahls.
Eine Nichtigkeit, die mit einem "Oh! Hoppla! Mein Fehler! Hier, bitte schön" in der Regel schnell erledigt ist. Nicht so beim Salinenflüsterer zu meiner Linken. "Ich hasse das!", echauffiert er sich und tobt sich in sein ganz eigenes #Salzstreuergate hinein. "Eine Unverschämtheit! Eine Frechheit! Sich zu bedienen, wie es einem passt!" Wir reden immer noch von einem Salzstreuer.
Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier
Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.
Polak registriert das Ganze irritiertamüsiert, während die Begleitung meines fatal entsalzten Tischnachbarn, ein freundlicher, gut gekleideter Rheinländer um die 60, versucht, die Situation zu deeskalieren. "Guck mal, der junge Mann hat sisch doch schon entschuldischt. Den Pfeffer hat er ja auch gleisch zurückjestellt." Der Herr tut mir leid. Er wollte sicher einfach nur einen schönen Abend haben und muss nun eine Art gastronomischen Blauhelm-Einsatz wegen entwendeter Gewürze leisten. Ich selber wiederum komme kaum noch dazu, über den Brexit zu referieren. Denn der Nachbar hört nicht auf zu zetern.
Der Salz-Junkie flippt endgültig aus
Unangenehm, wenn das Verhalten des Tischgenossen auf einen selbst abstrahlt. Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin mit Oliver Polak da. Und der provoziert, so gut er kann: "Siehst du, Micky. Und so muss das 1933 hier in Berlin auch angefangen haben." Jetzt bricht das Chaos aus. Der Salz-Junkie flippt endgültig aus, und selbst der gutmütige Rheinländer geht hoch. "Jetzt fangen Se doch bitte net noch mit’m Holocaust an!" Hat ein Jude als Vorwurf so auch noch nicht gehört.
Als selbst Gangster-Rapper ein paar Tische weiter über den Stress an unserem Tisch den Kopf schütteln, verlässt mein divenhafter Nachbar den Platz und hinterlässt uns alle ratlos.
Ich meine, auch wenn es mal knirscht, muss man doch nicht gleich abhauen, oder? Das kann man aussitzen. Er hat jetzt weder Salz noch Gesellschaft. Oder gar Freunde. Dafür muss ich nicht mehr den Brexit erklären. Der Sonderling hat ihn gerade im Kleinen live vorgetanzt. Oh, dear.
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Der Autor und Moderator Micky Beisenherz („Das Lachen der Anderen“, „ZDF Heute-Show“, „Extra 3“) schreibt alle zwei Wochen im stern – und regelmäßig auch bei stern.de