Auf der Kommode von Omma, da ist er noch lebendig. Auf dem kleinen Foto in dem silbernen Rahmen sehe ich ihn so, wie ich ihn als Kind kennengelernt hatte. In seinem Garten. Der hintere, kleinere Teil, von der Wiese vorne getrennt durch einen Wall aus Bäumen. Nur ein schmaler Durchgang zum kleinen Paradies aus Pflaumen-, Apfel- und Kirschbäumen, in deren Krone wir Jungs geklettert sind. Als er gestorben ist, da war ich zwölf. Vieles von ihm ist geblieben.
Die Alten werden uns zahlenmäßig bald überlegen sein. Zeit, ihnen mit Zuneigung zu begegnen. Selbst, wenn man während des Abzählens der Münzen des Vorderrentners an der Kasse einen kompletten Film von Christopher Nolan auf dem iPhone gucken kann.
Zusammenlöten von Dingen
Der sehr gute Musiker Gregor Meyle erzählte mir, dass er seine erste Gitarre von seinem Großvater geschenkt bekommen habe. Mehr noch: Das, was im heimischen Garten damals aussah wie ein Gewächshaus, sollte sich als etwas anderes herausstellen: Sein Opa hatte ihm dort seinen ersten Proberaum gebaut. Wofür ihm Meyle und seine Schrammellanten vermutlich dankbarer waren als die Nachbarn. Heute kann man sagen, dass sich diese Arbeit wahrlich gelohnt hatte.
Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier
Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.
Das, was mein Großvater einst bei uns in Henrichenburg im Garten gebaut hatte, sah ebenfalls aus wie ein Gewächshaus. Und war dann auch eines. Die Gartenarbeit, so meine Mama, habe ihr Vater eigentlich gar nicht so sehr geliebt. Der Teil, der ihm so viel Spaß gemacht habe, hatte mit dem Zusammenlöten von Dingen, mit dem Ausleben seiner technischen Begabung zu tun.
Da unser Oppa (im Ruhrgebiet immer mit sehr vielen Konsonanten aussprechen) handwerklich extrem begabt war, verfügte sein Treibhaus über eine automatisierte Hydraulik in den gläsernen Dachschrägen zur Frischluftzufuhr. Außerdem eine Sprinkleranlage für einen ganz feuchtwarmen Nebel. Ein Geruch von feuchter Erde, frischen Tomatenstauden, Schnittlauch. Ein tropisches Klima, ein Aroma in der Kindernase, das ich vergleichbar so erst Jahrzehnte später wieder in Australien wahrnehmen sollte. All das technische Geschick half Oppa aber nix, wenn er verhindern wollte, dass die Enkel ihm die halbreifen Tomaten und Gurken wegfressen. Ähnlich sollte es sich mit den Birnen, Äpfeln und Pflaumen verhalten.
Patriarch einer Gas-Wasser-Scheiße-Dynastie in Castrop-Rauxel
Wir haben zu diesem Mann aufgeblickt, der körperlich nicht besonders groß war, aber so ziemlich alles geschaffen hatte, auf dem dieses Vier-Genrationen-Haus fußt. Bis zur Begründung des elterlichen Handwerksbetriebes, den er lange führte und wo er immer noch ehrfürchtig "der Meister" genannt wurde, als mein Vater dort längst Geschäftsführer war. Der pepitabehütete Patriarch einer Gas-Wasser-Scheiße-Dynastie in Castrop-Rauxel. In abgewetzter Cordhose und speckigen Pullis, in denen sich Reste von Öl, Schmierfett oder Sägespähne verfingen. Ich kannte ihn nur in Arbeitskleidung. Er hat eigentlich sein Leben lang durchgearbeitet. Nicht für andere. Für sich selbst. Hat als mittelloser Sudetendeutscher zwei Häuser gebaut.
Eine Gitarre hat er mir auch mal gebaut. Ausgesägt aus einer Holzplatte und mit Saiten bespannt. Klanglich ein spärliches Gitarrenimitat, aber sei’s drum. Es fühlte sich an wie eine. "Vattel" (vermutlich ein sprachliches Überbleibsel aus dem Erzgebirge für Vater) war eher ein handwerklicher als ein musischer Mensch. Altgesellen wie der längst verstorbene Willy Utecht erzählten uns Kindern Geschichten, wie er als Lehrling einst zu schwach war, einen Heizkörper in den vierten Stock zu tragen, woraufhin "der Meister" diesen kurzerhand schulterte und mit ihm obendrauf sitzend die Treppen hoch trug. Ob's stimmt? Alle Zeugen dieser herkulischen Tat sind längst tot.
Wahr ist, dass mein Oppa meinen Bruder und mich gerne mitnahm. Wir streunten auf dem Betriebsgelände herum, für uns ein Abenteuerspielplatz, sammelten alte Schrauben, schauten ihm beim Reparieren der VW-Bullis zu oder ließen uns zeigen, wie man eine Fanta trinkt, ohne sich durch den Unterdruck den kompletten Mund in der Flasche einsaugen zu lassen. Weit bis nach der Rente war der "Meister" noch auf dem Hof, machte in seiner Garage kaputte Firmenwagen wieder flott, schraubte und flexte an Rohren herum oder bastelte einen Käfig, wenn ich eine verletzte Taube mit nach Hause brachte. Wäre es aussichtsreich gewesen, er hätte im Garten wohl sogar nach Öl gebohrt.
Chassis aus alten Schubkarrenreifen
Verbrieft ist auch, wie wir einst mit ihm auf das Gelände des Nachbarn im Industriegebiet, eines Schaustellers gingen, um für ein paar Mark die Karosserie eines ausgemusterten Autoscooters zu erwerben. Die baute er auf ein Chassis aus alten Schubkarrenreifen, zusammengelöteten Wasserrohren und einer Seifenkistenlenkung. Angetrieben wurde das Kart von einem alten Rasenmäherbenzinmotor, der so kraftvoll war, dass mein damals dreizehnjähriger Bruder mit ca. 50 km/h durch die Industriestraße kachelte. (Mein Bruder behauptet, es wären 80 gewesen.) Natürlich ohne Helm. Es war 1984.

Da meine Eltern nicht komplett begeistert davon waren, wurde zwar der Motor gedrosselt, nicht aber der Tatendrang meines Oppas, der – wie sollte es anders sein – Jahre später mit Anfang 70 einen tödlichen Herzinfarkt erlitt. Meine Omma hat ihn um 33 Jahre überlebt. Wäre aber nie wieder auf den Gedanken gekommen, sich für einen anderen Mann zu interessieren. Sie hat oft verliebt von ihm erzählt. Mit dem rührend schönen Stolz der Arbeiterklasse, wie sie sich als eine Art Bonnie & Clyde (aber ohne Schießerei) des Proletariats etwas aufgebaut haben und über das handwerkliche Ungeschick des dünkelhaften Bildungsbürgertums lachten.
Der Oppa hat immer gesagt: "Lore, ärger dich nicht. Wenn die zur Bank gehen und sagen: Gebense mir Geld, dann gehen die ohne was nach Hause. Wenn du zur Bank gehst und sagst, gebense mich Geld, dann kriegst du auch welches."
Das war die Sozialdemokratie, liebe Leute.
Menschliches Perpetuum mobile
Seit April 1989 war ihr Herz ein Ground Zero. Zum Glück war da noch das Haus, das sie gebaut hatten. Mit vielen Menschen darin. Mein Bruder und ich wollten sie mal spaßeshalber mit einem anderen Mann, einem befreundeten Witwer verkuppeln: "Wat? Der Jupp? Dem würd' ich wat geben. Mit dem Basketballknüppel." Sollte vermutlich so viel heißen wie: Nicht interessiert.
"Für das Herz ist das Leben einfach: Es schlägt, solange es kann", hat Karl Ove Knausgard geschrieben. Oppa hat es seinem Herz wahrlich nicht leicht gemacht. Aber er konnte auch nicht anders. Jeder Tag ein Vorhaben. Immer was tun. Ein menschliches Perpetuum mobile. Der Herzschlag erwischte ihn an einem sonnigen Dienstagmorgen in seiner Garage in der Firma, als er einen wassergetränkten Heuballen schulterte.
Warum der Heuballen? Er wollte gerade beginnen, Pilze zu züchten. Etwas Neues anfangen. Neugierig bleiben. Das lässt einen manchmal nicht alt werden.
Eine natürliche Autorität. Ein Komplize. Der Meister. Ich denke manchmal an ihn.