M. Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier Ich kaufe Amok: Über (sinnlosen) Konsum ohne Limit

  • von Micky Beisenherz
Ein Stapel Pakete lagert neben einem DHL-Auto auf dem Bürgersteig
Ein Stapel Pakete lagert neben einem DHL-Auto auf dem Bürgersteig
© Getty Images
Die Konsumlust unseres Kolumnisten wirkt wie sozialer Schmierstoff. Wenn er aber durch sein Viertel spaziert, überkommt ihn oft die Scham.

Offenbar ist bei mir etwas falsch verdrahtet: Mein Belohnungszentrum setzt Dopamin frei, wenn ich im Internet auf "Bestellen" klicke. Viel arbeiten, viel belohnen, ganz klar. Ausbaden müssen es die Nachbarn, deren Flur mit meinen Päckchen vollsteht. In unserem Mehrparteienhaus landen meine Postsendungen gern bei der sympathischen jungen Familie im ersten Obergeschoss. Ein kleines Manhattan aus Kartons türmt sich bei ihr auf, wenn ich nicht regelmäßig vorbeikomme, um sie abzuholen. Sie hätte das gute Recht, mich einen Teil ihrer Miete zahlen zu lassen, wo ich doch schon drei Quadratmeter ihres Flures belege.

DHL-Bote als Amor für Sozialkontakte

In unserem Haus ist die Postannahme der soziale Schmierstoff. Da nimmt jene Familie aus dem ersten Stock auch die Post des wunderlichen Reptilienliebhabers aus dem dritten an, während dieser die Päckchen der Studentin aus dem Fünften hortet. Man interagiert, lernt sich kennen, zu dem Namen erscheint ein Gesicht.

Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier

Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.

Die Vermittlerrolle kommt dem DHL-Boten zu, der als Amor für Sozialkontakte wie in einer Art Speeddating-Lotterie fremde Päckchen in anderen Etagen abgibt, damit man sich mal trifft. Zumindest, sofern man den Namen auf dem Zettel dechiffriert hat oder weiß, wer genau mit "Abgegeben bei: Nachbar" gemeint ist. Weil es oft an Zeit, Lust oder heilen Knien mangelt, lässt der Bote die Pakete gern in den unteren Geschossen. Sollen doch diejenigen die Treppen zu ihren kostbaren Sendungen runterlatschen, die tagsüber nicht in Flaschen pinkeln müssen, weil der Stress im Job nix anderes zulässt.

Habe ich die Sendung schließlich hochgetragen, spiele ich mit den Paketen Tetris. Die Konsumgüter steigen an wie der Meeresspiegel; was gestern noch eine freie Ecke war, ist plötzlich vollgestellt. Die neuen Sakkos, die die Sitzbank im Schlafzimmer belegen, eine Geröllhalde aus Schuhen in der Abseite, der gigantische Bücherstapel als Mount Everest unerledigten Leseanspruchs, der sich im Esszimmer auftürmt. Bücher kaufen ist bedeutend einfacher, als sie zu lesen. Über das Altbauparkett erstreckt sich eine Lawine aus Dingen infolge unkontrollierten Amokkaufs. Was mich erfreut, erdrückt mich. Das nicht so richtig im Griff zu haben ist nicht gut.

Ich drohe in Klamotten zu ersticken

Richtiggehend obszön wird es, wenn ich bei uns durchs Viertel laufe, mit dem Smartphone in der Hand das nächste Produkt schon in den Warenkorb legend, und die Obdachlosen sehe, die in einem Einkaufswagen weniger Besitztümer durch die Gegend schieben, als ich an einem durchschnittlichen Mittwoch im Flur der Nachbarn gelagert habe. Ich drohe in Klamotten zu ersticken, und nicht einmal 500 Meter entfernt sitzt einer ohne Beine in einer abgewetzten Daunenjacke in einem kaputten Rollstuhl abends im Regen. Seit Wochen steht der blaue Sack mit ausgemusterten Kleidern im Flur, während die da draußen frieren. Es ist irre.

So wird jeder gegebene Euro, jeder Schein zu einem kleinen Ablasshandel, der mich davon ablenken soll, proaktiver Teil dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit zu sein. Dass es in einer solchen Situation noch eine Rolle spielen soll, wofür der Mann dort am Boden mit dem Pappschild "FÜR ESSEN" das gegebene Geld ausgibt, erzürnt mich ob der Herablassung fast. Für uns ist ein Stück Karton der Überrest einer Großbestellung bei Zalando – für ihn die Schlafunterlage.

Der Einkaufswagen ein ganzes Leben, gestopft in 90 Liter verzinkten Draht. Und kein Button am Ende der digitalen Flaniermeile im iPhone.

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