VG-Wort Pixel

M. Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier Der Tanz auf der Klinge

Micky Beisenherz
© Illustration: Dieter Braun/stern
Darf man ausgelassen feiern, wenn woanders geschossen wird? Vielleicht ist es genau das Richtige, denn Glück lässt sich nicht ansparen.
Von Micky Beisenherz

Wären die Begleitumstände nicht so desaströs, es müsste einen fast amüsieren: Da wurde an einem Donnerstag vor rund vier Wochen offiziell die verbeamtete Fröhlichkeit angepfiffen – und das, was diese Armada des Frohsinns für ihre Ausgelassenheit erntet, ist blanke Wut.

Es war dann halt ein wenig unglücklich, dass um 11 Uhr 11 offiziell Party in den Straßen Kölns angesagt war, kurz nachdem im Großraum Kiew die ersten Raketen einschlugen. Mixed Messages fürs Herz all jener, die vom Krieg unmittelbar oder indirekt betroffen waren.

Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier

Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.

"Närrisches Treiben, während woanders Menschen sterben, jetzt geht’s aber los!", ätzten die Kritiker. Bleibt die Frage, was an diesem Event so besonders war. Abgesehen von der Karnevalsuniform, die speziell in diesem Moment so deplatziert wirkte wie ein Hasenkostüm auf einer Beerdigung.

Vielleicht war das alles so ärgerlich, weil es so exemplarisch ist für unser Dasein, hier im saturierten, bislang so unbeeindruckten Biotop der Glückseligen. Woanders bricht die Hölle los, und wir feiern, als ob es kein Morgen gäbe.

Fühlen wir uns womöglich einfach nur ertappt?

Dieses Geschehen bildet doch exakt ab, wie es permanent bei uns zugeht: Die Welt geht unter, und wir setzen uns die Narrenkappe auf. Es war nur unangenehm, dies in aller Welt ausgestrahlt zu wissen.

Es ist ja so, dass sich bei nicht wenigen von uns zuletzt einfach dieses Gefühl von "Wir haben zwei Jahre tapfer die Arschbacken zusammengekniffen, jetzt wollen wir aber auch mal wieder ein bisschen zurück zur Spaßroutine!" Bahn brach. Ein allzu menschliches Gefühl ist das, auch in seiner Hilflosigkeit, die nur vordergründig ignorant erscheint.

Es ist in Ordnung, dem Leben lustvolle Momente abzutrotzen

Denn wahr ist: Erst jetzt, da der Krieg praktisch auf unserer Fußmatte stattfindet, nehmen wir ihn auch als solchen wahr und wollen uns in unserer Ausgelassenheit bescheiden. Kriegsopfer aus Syrien, Mali oder dem Jemen dürfen unser Verhalten durchaus bigott finden.

Richtig ist aber auch: Bei aller gebotenen Sensibilität für die Lage im Osten Europas (und bei aller notwendigen Hilfe) ist es natürlich in Ordnung, dem Leben lustvolle Momente abzutrotzen. Ja, möglicherweise ist es sogar eine Verpflichtung für uns.

Seit nunmehr zwei Jahren erleben wir verstärkt eine Situation, die uns im Kollektiv mehr oder weniger nervigen (immer wieder auch sinnhaften) Auflagen unterwirft. Ganze Branchen sind förmlich sanktioniert, als wären Messebauer, Klubbesitzer oder Arenabetreiber selbst ruchlose Gesellen. Auch wir haben zehntausende Menschenleben durch die Pandemie verloren. Man muss das nicht kleindenken.

Aber sind diese Erfahrungen nicht Grund genug, jetzt erst recht zu tanzen und zu lieben, essen zu gehen und zu feiern? Wir sind den Toten nichts schuldig, außer unsere Existenz mit so viel Leben zu füllen, dass man dieses Leben als solches auch bezeichnen kann.

Die knappe Zeit ist kostbar, Glück lässt sich nicht ansparen.

Machen wir es besser als die Vorgängergeneration, die sich zum Lachen (und Feiern) noch am liebsten verschämt in den Partykeller verzogen hatte. Hieven wir das freudvolle Dasein wieder selbstbewusst ans Licht! Wir sollten in unserem derzeitigen Leben mehr Tel Aviv wagen: Freude und Gefahr, sie dürfen sich treffen.

Wenn wir schon mehr auf der Rasierklinge sind als bisher jemals angenommen, dann sollten wir langsam anfangen, zu tanzen.

Micky Beisenherz freut sich, von Ihnen zu hören. Schicken Sie ihm eine E-Mail an:

beisenherz@stern.de

Mehr zum Thema

Newsticker