"Wicked" Hexen mit Tiefgang

Den "Zauberer von Oz" kennt in den Vereinigten Staaten jedes Kind - in Deutschland läuft das dazu gehörige Musical "Wicked" erst seit Ende 2007. Seither heißt es in Stuttgart aber: Oz-apft is!

Ach ja, "Der Zauberer von Oz". Das ist der MGM-Film, in dem das schwarz-weiße Farmerstöchterchen Dorothy alias Judy Garland bei einem Sturm so gehörig eins auf den Schädel bekam, dass es danach in qietschebuntem Technicolor wieder aufwachte. In einer Welt, in der Löwen, Vogelscheuchen, und mannsgroße Blechbüchsen gefühlt alle zehn Minuten zu singen anfingen, um Dorothy und ihren Hund zurück nach Kansas zu jaulen. Und dabei einen Ohrwurm nach dem anderen ablieferten: "If I only had a brain", "The wonderful wizard of Oz", "Turn down the yellowbrick road". Judy Garland selbst intonierte noch schmachtend "Somewhere over the rainbow." Für so viel Musik gab es gleich zwei Oscars. Einen für den besten Song, einen für die beste Musik.

Eingängige Melodien noch und nöcher also im Filmklassiker, der auf Büchern von L. Frank Baum basiert. Da scheint es wie ein gewagtes Unterfangen, die Einwohner des Landes Oz ausgerechnet für ein Musical zu reanimieren. Zudem sich an Neuauflagen schon einige Kreative übernommen haben. 1977 der Regisseur Sidney Lumet mit dem Afro-Discomärchen "The Wiz", in dem - ausgerechnet - Michael Jackson die Vogelscheuche spielte. Und 1986 der Disney-Konzern. Der produzierte mit der Bombast-Fantasie "Oz - Eine fantastische Welt" einen der größten Box-Office-Flops der achtziger Jahre. So sehr stresste Walter Murch, einen der weltbesten Filmcutter, das filmische Fantasialand, dass er sich auf dem Regiestuhl gleich von zwei Großen ihres Fachs unter die Arme greifen lassen musste: George Lucas und Francis Ford Coppola. Danach führte er nie wieder Regie. Vor zwei Jahren schließlich verloren sich die Muppets nach Oz. Ein Kritiker fasste den Fernsehfilm "The Muppets' Wizard of Oz" so zusammen: "fucking bad".

Zauberinnen haben das Sagen

Da darf es durchaus ein doppeltes Wunder genannt werden, dass es "Wicked - Die Hexen von Oz" gelingt, dem Geist des Originalfilms von 1939 gerecht zu werden - obwohl gerade die Musik ein wenig zu wünschen übrig lässt. Doch ansonsten hat Stephen Schwartz, der auch die Originaltexte schrieb, alles richtig gemacht. Er hat die guten Teile des Films ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen sortiert. Das zeigt sich besonders bei den Hauptfiguren. In "Wicked" spielen die Zauberinnen von Oz die Hauptrolle. Dorothy, die öde Farmersgöre auf Selbstfindungstrip, kommt nur im Nebensatz vor.

Das Musical

Das berühmte Broadway-Musical "Wicked" ist seit November 2007 im Stuttgarter Palladium Theater (Plieninger Str. 109, 70567 Stuttgart) zu sehen. Kartenbestellungen entweder online oder telefonisch unter 01805/4444 (14 Ct./Min. aus dem dt. Festnetz).

Es duellieren sich also im Prequel - tatsächlich erzählt "Wicked" die Vorgeschichte des MGM-Films - Glinda, gute Hexe, und Elphaba, die böse Hexe des Westens. Glinda ist eine verwöhnte Zicke, die es faustdick hinter den Ohren hat: Um zu bekommen, was sie will, setzt sie alle Mittel ein. Elphaba dagegen ist eine Außenseiterin. Da mag sie aus noch so gutem Hause stammen: Als Hochgrüngeboren macht sie sich nicht allzu viele Freunde auf ihrer Zauberschule. Und die wirkt ein bisschen wie Hogw-Oz: sprechende Ziegen, winzige Zwerge namens Manschkins, und, und, und.

Trotz anfänglichem Zwist und Zauber - die zwei Hexen von Ozwick freunden sich miteinander an. Denn die hochbegabte und hulkgrüne Elphaba nimmt Blondblinnse Glinda mit in die Smaragdstadt: zu ihrem künftigen Mentor, dem Zauberer von Oz. Der nette Opa mit dem Yoda-Charisma ist jedoch ein Hochstapler, der Böses im Schilde führt. Klingt irgendwie bekannt.

Viel Charme, wenig Musik

"Wicked" ist ein Stück mit Charme und Schmackes. Doch es gibt ein Aber. Ausgerechnet an einer Sache fehlt es: Es ist ein bisschen wenig Musik im Musical. Sicher, es gibt ihn, den einen, den großen Gänsehaut-Moment. Aber er kommt erst nach einer ganzen Weile. Genauer gesagt am Ende des ersten Aktes: Da schmettert die hervorragende Elphaba-Darstellerin Willemijn Verkaik den Song "Frei und schwerelos", während sie wie eine böse Jungfrau Maria gen Bühnenhimmel steigt. Dieses Lied bleibt in den Gehörgängen kleben. Und der ganze Moment hat eine Klasse, wie sie eigentlich dem Finale vorbehalten bleiben sollte.

Für den Rest des Stücks bleibt die Musik aber immer ein wenig Lala-Mucke. Zum einen Ohr rein, zum anderen raus. Zudem bedient sich Stephen Schwartz ganz gern: mal bei sich selbst - dann klingen seine Melodien ein wenig nach Liedern aus dem Disneystreifen und späteren Berliner Musical "Der Glöckner von Notre Dame". Mal bei seinen Kollegen - dann scheinen Textteile weitgehend mit Liedern aus dem Zeichentrick-Epos "Anastasia" übereinzustimmen: "Ich bin berei-heit!" Was Frauen eben angeblich so singen, wenn Großes bevosteht.

Pech für die beiden Hexen also, dass sie so wenig zeigen dürfen, was sie stimmlich auf dem Kasten haben. Ein Glück, dass das gesamte Ensemble die Schwächen des hübsch eingedeutschten, aber für ein Musical zu textlastigen Stücks mit seinen wunderbaren Schauspielkünsten kompensiert. Vor allem die Regensburgerin Lucy Scherer sticht heraus. Sie spielt die blondierte Bibi-Blocksberg-Glinda mit einer derart überdrehten Wonne, dass es eine echte Freude ist.

Das Bühnenbild verzaubert die Zuschauer

Neben Scherers Zauberzicke und Verkaiks großem Song ist zudem das Bühnenbild Ozcar-reif. Rund 12 Millionen Euro hat Stage Entertainment nach eigenen Angaben investiert, um die Hexen eins zu eins nach Deutschland zu blasen. Der Look von "Wicked" liegt dabei irgendwo zwischen den Neon-Exzessen von "Batman und Robin"-Regisseur Joel Schumacher und den skurrilen Bilderwelten eines Tim Burton: Affen fliegen durch den Saal, ein riesiger Metalldrache, gigantische Zahnräder, von Gustav Klimt inspirierte Gemälde und eine riesige Statue schmücken die Bühne.

Bei so viel Opulenz entsteht durchaus eine magische Atmosphäre, da mag die Musik auch etwas mau sein. Gleichzeitig zeigt sich mal wieder, dass das Musical-Publikum anders denkt als die Kritiker. Da wurde "Wicked" von der schreibenden Zunft noch so durchwachsen beurteilt, bei den Zuschauern entwickelte sich das Musical zu einem großen Hit. Was den Schluss zulässt, dass "Wicked" die Bedürfnisse des schall- und rauchverwöhnten Publikums auch in Stuttgart erfüllen dürfte. Das Extra-Schmankerl: Um dem deutschen Publikum die totale Dröhnung bieten zu können, hat Stage Entertainment zehn Subwoofer unter dem Fußboden im Zuschauersaal einbauen lassen.

Entsprechend ordentlich kracht es, wenn der Zauberer von Oz seinen ersten großen Auftritt hat. Ein Auftritt, der nur einer von vielen Verweisen auf das moderne US-Kino ist: Nicht nur den originalen MGM-Film, sondern auch Filme wie "Carrie", "Spaceballs", "Der Grinch" haben die Macher lustvoll geplündert. Der Zauberer ist übrigens, wie schon im Film, ein Hochstapler. Und auch der smart-attraktive Recke, um den sich die beiden Zauberladys duellieren, entpuppt sich zunächst als oberflächlicher Haudrauf. Erst von Hexe Elphaba wird er auf den richtigen Weg gebracht. Hier, wie in der Beziehung der guten zur bösen Hexe, entwickelt sich in der etwas verworrenen, aber amüsanten Show sogar ein wenig Tiefgang. Für ein Musical ist das fast schon seltsam.

be/jis

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