Christina Aguilera Das fleißige Lieschen

Von Andrea Ritter
Sie hat viel probiert, um eine so große Verwandlungskünstlerin wie Madonna zu sein. Mit ihrem neuen Album will Pop-Prinzessin Christina Aguilera nun erwachsen werden. Aber eine neue Haarfarbe und ein paar soulige Ahaaas und Ohoohoos sind dafür nicht genug.

Sie hat sich tatsächlich zehn Piercings rausgenommen, nur eines durfte stecken bleiben - in der Brust. Mit dieser wahrlich sensationellen Enthüllung löste die 25-jährige Popsängerin Christina Aguilera, ehemals Xtina, inzwischen verheiratete Mrs. Jordan Bratman, kürzlich eine Nachrichtenwelle aus. Erstaunlich, dieser Effekt - und schon deshalb lohnt sich die Fahrt durchs stickig heiße London, hin zum Koko-Club an der Camden High Street, hin zu Christina Aguilera, die dort an diesem Abend auftreten wird, mit rotem Teppich und allem Drum und Dran. Will man doch mal sehen, diese Frau, die schon mit so wenig so viel Aufmerksamkeit erregt und auf deren neue Platte die Fans seit vier Jahren sehnsüchtig warten.

Sehen ist allerdings gar nicht so einfach. Zart und klein ist sie, höchstens 1,65 Meter, trotz der langen Absätze unter den Füßchen. Auch ihre neuerdings platinblonden Locken fallen nicht besonders auf, weil die, so im Abendlicht betrachtet, eher ins Dolly-Buster-Gelbliche gehen, eine Haarfarbe, die auch bei den Damen der englischen Soap-Industrie sehr beliebt zu sein scheint, die sich an diesem Abend auf dem roten Teppich tummeln und die Aguilera sehen wollen.

Erst drinnen, auf der Bühne des plüschig roten Koko-Clubs, strahlt Christina - im gold-schwarzen Glitzerkleidchen, die wertvollste Praline in einer schmucken Schachtel. Früher trug sie bei ihren Auftritten gern taschentuchgroße Slips oder Strapse und redete in Interviews vorzugsweise über Sex. Jetzt inszeniert sie sich als retro-schicke Marilyn Monroe mit knallrotem Lippenstift und berichtet ausführlich von ihrem Eheglück. Seht her, Christina Aguilera ist erwachsen geworden, lautet die Botschaft. Ihre neue Platte "Back To Basics" erscheint an diesem Wochenende, und da singt sie Soul und Jazz und Blues, ganz so, wie die großen Damen der amerikanischen Musikgeschichte.

Und sie gibt sich wirklich Mühe, auch hier im Koko-Club. Viele Oohoohoo-aahaahs singt sie, tief die "Ohs", höher die "Ahs", so richtig soulig-röhrig und wie aus dem Lehrbuch. Sie rudert zur Unterstützung bedeutungsvoll mit der Hand in der Luft. Dann wieder flitzt sie für eine 20er-Jahre-Nummer im kessen Matrosenhöschen über die Bühne, schürzt die Lippen und legt den Zeigefinger an den Mundwinkel. Ohne Zweifel, Christina Aguilera macht das, was Amerikaner "a good show" nennen. Und singen kann sie auch. Irgendwie ist man fast erleichtert darüber, so angestrengt bemüht sie sich, dem Publikum zu beweisen, was für eine große Künstlerin sie ist.

Start im Disneyland

Es gibt wohl kaum eine Popsängerin, die in den vergangenen Jahren ähnlich hart gearbeitet hat wie Christina Aguilera. Als Zwölfjährige sang und moderierte sie im "Mickey Mouse Club", dem Gewächshaus für amerikanische Nachwuchsstars, das zeitgleich auch Britney Spears und Justin Timberlake hervorbrachte. Und obwohl sie schon damals die besser temperierte Stimme hatte, lief es zunächst nicht so gut für sie: Justin machte mit der Boyband "'N Sync" Karriere; Britney schaffte es als züngelndes Schulmädchen eine Sekunde eher nach oben.

Selbstinszenierung als lüsternde Sexgöttin

Doch schneller als Britney muss Christina Aguilera dann begriffen haben: Will man heute im Showgeschäft bestehen, darf man nicht zu lange auf derselben Welle reiten. Blickt man auf ihre Karriere zurück, scheint dahinter ein Plan zu stecken, so präzise durchkalkuliert wie die Übernahme einer Großbank. Bei ihrem ersten Nummer-eins-Hit "Genie In A Bottle" (1999) war sie noch das süße High-School-Girlie, anschließend färbte sie sich die Haare schwarz und rot, ließ sich piercen und wurde zur lüsternen Sexgöttin; ihr Album "Stripped" (2002) und vor allem die Hitsingle "Dirrty" schickten das Bild der neuen "Xtina" um die Welt: Spärlich bekleidet und extrem unterleibzuckend robbte sie im dazugehörigen Video-Clip durch eine Industrieruine, tanzte sich durchs Repertoire der Pornoposen, erzählte jedem, der es wissen wollte, Details aus ihrem Sexleben und machte ein sexy Foto-Shooting nach dem anderen. Danach war sie weltbekannt und bereit für die nächste Stufe. Viele Sterne glänzen nur an der Oberfläche - um sich abzuheben, musste Christina Aguilera ein Star mit Inhalt werden.

Also sprach die Lieblingsschlampe der amerikanischen Medien plötzlich als Moralistin mit feministischem Anspruch: Sie wolle nicht länger auf Sex reduziert werden, schließlich sei ihr Körpereinsatz nur Ausdruck dafür, dass auch Frauen ein Recht auf frei ausgelebte Sexualität haben sollten. Sie berief sich auf ihre unglückliche Kindheit mit einem prügelnden Vater und prangerte häusliche Gewalt an. In ihrer Single "Beautiful" kritisierte sie schließlich falsche Schönheitsideale und die Diffamierung von Homosexualität und bescherte der Popwelt damit tatsächlich einen Song mit Botschaft. Selten genug in der Branche, und offenbar genau zum richtigen Zeitpunkt: Die mediale Aufmerksamkeit war wieder voll auf ihrer Seite - auch, weil Christina kurzfristig zehn Kilo zugelegt hatte.

"Mini-Madonna auf Amphetamin"

Eine "Mini-Madonna auf Amphetamin" hat das Magazin "The Face" Christina Aguilera wegen dieser rasanten Image-Wechsel genannt. Eine "neue Madonna" im Programm zu haben, davon träumen viele Plattenfirmen. Tatsächlich ist die 47-Jährige Christinas erklärtes Idol. Bei den MTV-Awards 2003 tanzte Christina Aguilera noch an der Seite von Britney Spears zu Madonnas Erfolgshit "Like a Virgin", zur Belohnung bekamen beide einen Zungenkuss von ihrer Ikone. Im Moment sieht es aber so aus, als würde allein Christina Aguilera das Rennen um die Nachfolge machen.

Die Stimme und die Figur dazu mag sie haben. Aber anders als Madonna setzt sie mit ihren äußeren Verwandlungen keine Trends - sie folgt ihnen bloß. Während Madonna durchaus offensiv mit Geschlechterrollen und Klischees spielt, wirkt Christina Aguilera bei jedem Wechsel wie ein übereifriges Schulmädchen: Sie war die Teenie-Schönheit, als High-School-Girls "in" waren, sie war die harte Sexarbeiterin im immer obszöner werdenden Video-Clip-Geschäft, sie offenbarte mit großen Gesten ihre Seele, als Echtheit gefragt war. Und jetzt setzt sie fort, was mit dem Hit "Lady Marmelade", einem Remake des Klassikers der Band um Patti LaBelle aus dem Film "Moulin Rouge", begann: Aguilera präsentiert sich als burleskes Showgirl mit Marilyn-Monroe-Frisur: ladylike, mit Songs, die an vergangene Zeiten erinnern.

Vater hat sie als Kind geschlagen

Sitzt man ihr im Interview gegenüber, wirkt ihr Verhalten genauso antrainiert wie die Show auf der Bühne - allerdings abzüglich des Glamours, so farblos und kontrolliert sind ihre Antworten. Selbst wenn man sie nach den Dingen fragt, die ihr doch angeblich so sehr am Herzen liegen, wie häusliche Gewalt oder die Selbstbestimmung von Frauen, spult sie die immer gleichen Phrasen ab: Ihre Kindheit war unglücklich, häusliche Gewalt ist schlecht. Kommentare oder Präzisierungen, was genau sie damit meint, gibt es nicht. Fragt man sie dann, wie sehr die Erfahrung mit ihrem gewalttätigen Vater ihr Männerbild beeinflusst habe, kommt wiederum die Geschichte von ihrem jetzigen Eheglück, mit dem Hinweis, dass sie auch jetzt, als Ehefrau, immer noch sexy und "dirty" sei. Auf ihrer neuen Platte gebe es deswegen einen Song mit dem Titel: "Still dirrty".

Vielleicht ist es das, was Madonnas Nachkömmling vom Original unterscheidet: Statt sich mit einem künstlerischen Konzept zu positionieren und diesen Standpunkt dann auch mit der gebotenen Radikalität umzusetzen, bemüht sie sich, es möglichst allen Zielgruppen recht zu machen - und verliert dabei ihre Konturen. Christina Aguileras neue Platte "Back to Basics" ist das beste Beispiel dafür: Soul, Blues, Swing, R&B, aber eben auch ein bisschen Pop, ein bisschen Dance. Alles so perfekt produziert, so glatt und strahlend wie sie selbst. Das reicht für einen Spitzenplatz in den Charts. Ein Markenzeichen wie Madonna wird sie damit aber nicht.

Es steckt einfach zu viel des Guten in ihr.

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