Roger Cicero hatte schon vorab erkannt, wie er hier zum Erfolg kommen kann: "Liebe Mütter, versteckt die Handys eurer Kleinen", forderte er die vor den Fernsehern sitzenden Frauen auf - und dürfte damit seine Zielgruppe korrekt angesprochen haben. Die Alterspyramide kippt; wer Wahlen gewinnen will, muss auf Ältere setzen. Und so hatte am Ende des Vorentscheids nicht etwa die Casting-Show-erprobte Girlgroup Monrose die Nase vorn, die über eine mobilisierbare und Handy-affine Anhängerschaft verfügt, sondern ein Künstler, dessen musikalische Vorbilder weit in der Vergangenheit liegen.
Roger Cicero: "Frauen regier'n die Welt"
Schon in der Schule die Jungs ha'm gelacht
Doch mir hat's überhaupt nichts ausgemacht
Sie war so süß und ihre Beine so lang
Bin fast ein Jahr in ihren Ballettkurs gegangen
Als ich erfuhr, dass sie auf Umweltschutz steht
Hab ich "nein danke!" auf mein' Parka genäht
Das hat sie damals alles nicht in'tressiert
Doch seitdem weiß ich wer die Welt regiert
Wie sie geh'n und steh'n
Wie sie dich anseh'n
Und schon öffnen sich Tasche und Herz
Und dann kaufst du 'n Ring und 'n Nerz
Ein lasziver Blick
Und schon ändert sich deine Politik
Kein Boss und kein Actionheld
Kein Staat und kein Mafiageld
Frauen regiern die Welt
Alle Register von kokett bis naiv
Sie ha'm als Baby schon den Vater im Griff
Sie geben alles wenn sie irgendwas wollen
Und du beißt auf Granit wenn sie schmollen
Du machst dich lächerlich und lässt dich verhau'n
Damit die Mädels einmal nur rüberschauen
Sie pushen Beckham und stürzten Clinton
Ohne dafür 'ne Partei zu gründen
Wie sie geh'n und steh'n....
(Text: Frank Ramond, Musik: Matthias Hass)
Bei seinem Überraschungscoup half Cicero auch das Konzept der Show: Die ganze Sendung durchwehte der leicht moderige Hauch von 50 Jahren Grand-Prix-Geschichte. Alle möglichen noch lebenden Schlager-Ikonen wurden herbeigekarrt: So durften die "skandinavischen Ikonen" Wencke Myhre, Siw Malmkvist und Gitte Haenning - mit Gehstöcken ausgestattet - noch einmal ein Medley ihrer alten Hits singen. Derweil saß Paola auf dem roten Sofa und erzählte aus den Guten alten Tagen, als der Wettbewerb noch Grand Prix Eurovision de la Chanson hieß. Und als Krönung durften die Kessler-Zwillinge am Schluss den goldenen Umschlag bringen, in dem sich der Name des Siegers verbarg.
Das alles ist harter Tobak für Fans junger, frischer Popmusik, die nur das Hier und Jetzt kennt und die Gegenwart feiert. Die bleischwere Geschichtsstunde signalisierte den Kindern: Wenn ihr Monrose wählt, werden sie auch Teil der Historie und landen eines Tages in so einer Show. Gut möglich, dass viele willige Monrose-Unterstützer es einfach nicht mehr am Fernseher gehalten hat - verdenken kann man es ihnen nicht.
Nationale Untertöne
Die "Expertenrunde" bestehend aus Georg Uecker, Andrea Kiewel, Paola und Susanne "Moppel-Ich" Fröhlich tat ihr übriges, um die Abschaltreize zu erhöhen. Auf einem roten Plüschsofa sitzend rissen sie müde Witze, beleidigten den Vorjahressieger Lordi ("Der singende Friedhof der Kuscheltiere", "Ich dachte immer, es gibt nur gut aussehende Menschen in Finnland") und steigerten sich schließlich in unerträgliche nationale Ressentiments hinein: Die Finnen, sagte Moderator Thomas Hermanns, hätten ihren Spaß gehabt. "Jetzt ist Schluss, jetzt sind wir dran", gab er den Grundton der musikalischen Mobilmachung vor. Mit dem ursprünglichen Eurovisionsgedanken hatte das freilich nichts mehr zu tun - aber wenn wir schon Papst, Weltmeister und Oscar sind, muss es wohl auch für den Grand Prix einen klaren Marschbefehl geben.
So leistete die Show ganze Arbeit, junge Zuschauer von den Fernsehgeräten zu vertreiben. Ältere Semester kamen hingegen auf ihre Kosten: Am Schluss demonstrierte der frühere Frauenschwarm Johnny Logan noch einmal, wie man in Würde altert.
Und so mussten am Ende die Mütter ihren Kindern gar nicht mehr die Handys wegnehmen - die saßen schon längst nicht mehr vor dem Fernseher. Wer die Untoten aus 50 Jahren Grand Prix heil überstanden hatte, war hingegen reif für den gut abgehangenen Swing von Roger Cicero: Unter den 900.000 Anrufern erhielt sein Song "Frauen regier'n die Welt" die absolute Mehrheit.
(aus der am 23.3. erscheinenden Live-DVD)