Die Knusperhexe steht im Finale: Wie eine durchgeknallte Esoterikerin auf LSD fuchtelt sie mit ihren Händen herum. Die dunklen Fransenhaare wehen ihr wild ins Gesicht, während sie zum Beschwörungstanz ansetzt. Linkes Bein in die Knie, rechtes Bein abgespreizt, Hände zur magischen Acht und dann ein lautes "Feeling up-up-up-up-up." Das scheint Petrus so sehr zu beeindrucken, dass er es auf Barfußtänzerin Loreen sogar herabschneien lässt - ein ritueller Ringelrein im Schneegestöber. Grandioser Abschluss des Spektakels ist ein tollkühner Sprung in bester Pina-Bausch-Manier, mit dem die Schwedin ihren Tänzer niederstreckt. Ding Dong, die Hexe lebt. Nach den Plätzchen backenden russischen Omas ist dies der skurrilste Auftritt des 57. Eurovision Song Contest. Europa mag es in diesem Jahr ausgefallen.
Die Schwedin Loreen hat sich im zweiten Halbfinale am Donnerstagabend zusammen mit insgesamt zehn Kandidaten für die Endrunde am Samstag qualifiziert. Mit gleich mehreren Favoriten war die Show deutlich hochkarätiger besetzt als die erste - und kam auch deutlich besser in Schwung. Die Postkartenfilmchen zeigten zwar erneut nur ideenlos aneinandergereihte Hochglanzbilder aus Baku, aber immerhin haben es die Gastgeber geschafft, die ESC-Gewinner der vergangenen fünf Jahre als Pausenakt auf die Bühne zu holen. Auch Lena war dabei und versetzte mit ihrem Siegersong "Satellite" die Kristallhalle in ein kollektives "Love, oh Love". Überhaupt waren die 16.000 Zuschauer gut drauf.
Rocker mit Bauarbeiterdekolletee
"Türkiye, Türkiye", schallt es kurz vor zwei Uhr Ortszeit in der Arena. Neun Teilnehmer bangen im Green Room um den letzten verbliebenen Umschlag. Die holländische Pocahontas, Joan Franka, ebenso wie der türkische Seeman Can Bonomo. Ohnehin bereits abgeschrieben waren das slowenische Schneewittchen Eva Boto und Rocker Max Jason Mai (trotz oder wegen seines Bauarbeiterdekolletees). Der miese Auftritt der Captain-Future-Boyband aus Weißrussland hat der EBU immerhin die Peinlichkeit erspart, den Song Contest im nächsten Jahr eventuell wieder bei einem Diktator abhalten zu müssen. Sollten es die Niederlande also nach sieben erfolglosen Jahren hintereinander dieses Mal tatsächlich geschafft haben, die Türkei aus dem Rennen zu schlagen?
Grand-Prix-Veteran Željko Joksimović kann sich zu diesem Zeitpunkt bereits feiern lassen. Mit seiner Ballade "Nije Ljubav Stvar" galt der Serbe ohnehin als gesetzt und lieferte prompt. Überraschender war da schon der Finaleinzug von zwei anderen Balkan-Ländern: Bosnien und Herzegowina setzte sich mit der wohl langweiligsten und sperrigsten Ballade des ganzen Wettbewerbs durch und auch Mazedonien gelang ein kleines Wunder. Sängerin Kaliopi Bukle rockte die ehemalige jugoslawische Republik nach vier erfolglosen Jahren mit ihrer Gianna-Nannini-Stimme zurück ins Finale. Wer konnte denn auch ahnen, dass hinter ihrem schwarzen Hosenanzug solch eine Rockröhre steckt.
Tänzer in neonfarbenen Anzügen
Ein Fest für Augen und Ohren war hingegen Gaitana. Die ukrainische Sängerin hat die Stimme von Tina Turner und das Aussehen von Naomi Campbell. Trotzdem ist ihre Europop-Hymne "Be my Guest" bei vielen Grand-Prix-Fans unbeliebt. Zu viel Bühnenzauber sei das alles: die neonfarbenen Anzüge der Tänzer, die Videowände im Hintergrund, ihr wischmopartiges Kleid und der Blumenkranz auf ihrem Kopf. Doch die Zuschauer und Jurys mochten den Pomp und wählten die Halb-Kongolesin ebenso ins Finale wie den im krassen Gegensatz dazu stehenden Auftritt des Esten Ott Lepland. Sein "Kuula" trägt er extrem minimalistisch, aber stimmlich stark vor - eine echte Bereicherung für Samstag.
Einen Wettstreit um die coolsten Tanzschritte lieferten sich Kurt Calleja aus Malta und Tooji aus Norwegen. "Ey, ey, ey, ey-ey" oder "Na-na, na, na, na, na" - Europa konnte sich offenbar nicht zwischen der Gute-Laune-Nummer und den orientalischen Synthipop-Klängen entscheiden und schickte prompt beide in die Endrunde. Überraschung des Abends war der Finaleinzug der Litauer. "Love is blind" - Liebe macht blind, schmachtete Donny Montell seinen Herzschmerz-Song ins Mikrofon und stand geschlagene eineinhalb Minuten mit einer Augenbinde auf der Bühne. Theater, Theater - aber immerhin stehen die drei bestaussehenden Herren des Wettbewerbs damit gemeinsam im Finale.
Türkei zieht ins Finale ein
Und was war nun aus dem Wettstreit zwischen der Türkei und Holland geworden? "Türkiye, Türkiye", fordern die Zuschauer in der Kristallhalle lautstark. Die groteske Seefahrernummer "Love me back" mit den von Tänzern aus ihren Umhängen geformten Boot auf der Bühne schwamm auf einer Welle der Sympathie. Dagegen hatte selbst der süßeste Silberblick des ESC 2012, Joan Franka, keine Chance. Die Holländerin mit den Kulleraugen ging leer aus, die Türkei steht im Finale.
Dort wird es auch für Roman Lob ernst. Nach Meinung der englischen Buchmacher sind die Chancen des deutschen Teilnehmers auf einen Sieg nur gering. Die Schwedin Loreen gilt als haushohe Favoritin. Doch wer weiß, in Baku erhält Roman bislang viel Lob und sein Song "Standing Still" kommt gut an. Und der Eurovision Song Contest war ja schon immer für Überraschungen gut. Deshalb heißt es am Samstag: Knopfauge gegen Knusperhexe.