Es bedeutet sicher einen schönen Abend, wenn ein hübsches Mädchen auf der Bühne fröhlichen Pop trällert und damit den Eurovision Song Contest gewinnt, aber es bringt die Musik nicht weiter. Dazu braucht es Musiker wie Jonsi, die daran feilen, vorantreiben und dafür schuften, ihrem Publikum Träume in Tönen und Bildern zu bieten. Die zeigen, was Popmusik alles sein kann, wenn man mehr will als den schnellen, lukrativen Spaß.
Er ist wie der Rattenfänger aus dem Märchen, nur dass er keine Flöte braucht. Wenn Jonsi singt, sind alle Augen auf und alle Gefühle bei ihm. Die nimmt er dann mit auf seine Reise: durch Feuer, Wasser, den Himmel und Wälder. Wölfe hetzen über die Bühnenleinwände, Wasser füllt vermeintliche Fenster, und Feuer frisst sich durch Schmetterlingswolken. Alles überwältigend, alles digital, und alles verpackt in eine perfekt getimte Bühnenshow.
Nach Sigur Ros heißt es "Go"
"Go" heißt das Solodebüt, mit dem Jonsi gerade tourt. Seit 1994 ist er Frontmann von Sigur Ros, der isländischen Band, die zur Jahrtausendwende die Popwelt in Ekstase versetzte. Nach dem großen Jahrzehnt des Zynismus standen plötzlich exzellente Musiker auf der Bühne, die nach reiner Schönheit zu suchen schienen, was damals tatsächlich mutig war. Perfekte Harmonien, große Soundwände und die elfenhaft-zerbrechliche Stimme von Jonsi. Natürlich hagelte es Kitsch-Vorwürfe, aber Sigur Ros machten weiter, schufen den Meilenstein "Agaetis Byrjun" und fanden in Bühnenshows und Filmen die perfekten Visionen für ihren Klangflächen.
Zehn Jahre später macht Sigur Ros Pause, und Jonsi versucht es allein. Dabei ist ein erstaunlich verspieltes Album herausgekommen, etwas anderes, tatsächlich eigenes, das das Erfolgskonzept von Sigur Ros genommen, aber weiterentwickelt hat. "Ich habe die ganze Zeit Songs geschrieben, die aber nicht zur Band gepasst haben, also habe ich sie zur Seite gelegt", sagt Jonsi.
Worte für Schönheit finden
Diese Songs heißen "Go Do" oder auch "Around Us" und sind wahre Pophymnen, während "Tornado" und "Grow till tall" sich genüsslich in die Klangteppiche schmiegen. Doch lässt Jonsi die Schönheit nie allein stehen. "Ich mag die Verbindung von beiden Extremen: schön und hässlich in einem. Nehmen Sie eine liebliche Melodie, aber sie wird total verzerrt, bricht auf. Das ist dreckig und hässlich, aber gleichzeitig wunderschön", sagt er und lächelt ziemlich schüchtern. Jonsi würde niemals einen Song Contest gewinnen.
Der 35-jährige sitzt auf dem Sofa im Backstageraum der Berliner Columbia-Halle und sieht auf den ersten Blick aus wie ein verschreckter Zwölfjähriger. Die schmalen Schultern fallen nach vorn, er knetet die Hände, sein Lächeln legt schiefe Zähne frei. Das rechte Auge fokussiert nicht, darauf ist er seit Geburt blind. Auf der Suche nach Worten für Schönheit, fragt er, ob Verliebtheit wohl dazu zähle. Unsicher wirkt Jonsi. Kaum zu glauben, dass dieser fragile Mann und der Künstler, der an diesem Abend auf der Bühne Welten entstehen und wieder einstürzen lassen wird, ein und derselbe sind.
Ob er überhaupt weiß, dass es so etwas wie den Song Contest gibt? Jonsi lacht laut über sich selbst. Er habe eigentlich keinen Anteil an der Gesellschaft, sagt er. Den Konkurs seines Heimatlandes Island habe er kaum mitbekommen, weil er entweder auf Tour oder im Studio gewesen sei. Wie soll das denn gehen? "Ich habe keinen Fernseher und auch kein Radio. Und die Gratiszeitung habe ich eines morgens einfach nicht mehr bekommen." Jonsi strahlt. Dann steht er auf, riecht an der Blume, die etwas einsam auf dem Plastiktisch steht und sagt mehr zu sich selbst: "Ich möchte jetzt am liebsten noch ein Album machen."