Woran denken Sie, wenn jemand die Tour de France erwähnt? Sollten Sie nicht gerade Radsport-Aficionado sein, dann vermutlich an Jan Ullrich (der 2005 zum letzten Mal teilnahm), Team Telekom, Lance Armstrong (der 2010 zum letzten Mal teilnahm) und an ganz viele Doping-Skandale. Speziell Letzteres war wohl der Grund dafür, dass das legendäre Radrennen in den vergangenen Jahren kaum noch für breites Publikumsinteresse sorgte. Da fahren Sportler über 200 Kilometer pro Tag steile Berge hinauf, teils bei glühender Hitze? Ach ... mit gewissen aufputschenden Mittelchen ist das sicher gar nicht so anstrengend.
Einen überraschenden, neuen Blick wirft nun aber eine Netflix-Dokureihe auf das Radrennen. "Tour de France – Im Hauptfeld " heißt sie, dahinter steht größtenteils das gleiche Team, das bereits die beliebte Formel-1-Doku "Drive To Survive" produziert hat. Und es wendet die bewährte Technik an: Gezeigt werden die Menschen und die Emotionen hinter den sportlichen Wettkämpfen. Fluchende Teamchefs, ehrgeizige Durchstarter, Sportler, die als "zu alt" oder "zu nett" kategorisiert werden und fortan um ihr Standing im Team kämpfen müssen. Plötzlich wird das gesichtslose Geradel (Radsportfans mögen den Begriff entschuldigen) zu einer persönlichen Prüfung von Menschen, über die man nun etwas mehr weiß. Und es wird somit spannender.
Tour de France: Ein dreiwöchiges Leiden
Genau wie die Vorlage "Drive To Survive" packt "Tour de France: Im Hauptfeld" auch diejenigen, die wenig Interesse an Radsport oder Sport generell haben. Hinter die Kulissen blickt schließlich jeder gern. In diesem Falle sieht man da vor allem: Viel, viel Leid. Egal, wie gut trainiert die Herren sind, wie sorgsam sie von Physiotherapeuten massiert werden, wie getaktet ihre Ernährung ist – die drei Wochen der Tour de France sind ganz augenscheinlich auch für die Top-Athleten eine Quälerei. Dazu kommen die eigenen Ansprüche und der Druck vonseiten des eigenen Teams: Nur als zweiter im Ziel? Eher Grund zum Fluchen als zum Freuen.
Die Magie der Qual: Alpe d'Huez und die Leiden auf der Großen Schleife

Und so sieht man oft, besonders bei den Lagebesprechungen der Teams im Reisebus, viele unglückliche Gesichter. Ist es die Tatsache, dass man als Rennradler einfach einen Hang zum Masochismus haben muss, die gelegentlich beklagte strenge Diät vor dem Start oder einfach die Aussicht auf einen weiteren unendlich anstrengenden tag im Sattel? Alles gute Gründe. Aber gelegentlich möchte man da einfach mal das ganze Team in den Arm nehmen, wenn es mit traurigen Augen den Strategiewünschen der Chefs lauscht. Jener Chefs, die später bequem im Auto hinter den Sportlern herfahren und erbarmungslos per Funk Ansagen brüllen.
Warum haben die Teams so fürchterliche Namen?
Ein Problem hat die Serie – im Vergleich zur Formel 1 sind die Teams deutlich größer, und sie alle haben komplizierte, aus Sponsoren-Unternehmen zusammengesetzte Namen (Alpecin-Fenix, EF Education-EasyPost, Groupama-FDJ, Ineos Grenadiers, Quick-Step Alpha Vinyl etc. etc.) Die Teams auseinanderhalten? Für Laien bei diesen Namen fast unmöglich. Und es gibt in fast jedem Team nicht nur einen potenziellen Etappensieger. Da kann man schon mal durcheinanderkommen: Wer war jetzt Philipsen und wer Jakobsen? Wer Roglič und wer Pogačar? Wer Jonas, wer Jasper? Aber da kann man wenig machen, hier treten schließlich nicht nur 20, sondern 176 Athleten gegeneinander an.
Was die Doku in jedem Fall schafft: Neuen Respekt vor der Leistung der Fahrer wecken. Und deren innerlichen Antrieb verstehen lernen. Was vollkommen außen vor bleibt: Das Thema Doping. Es fehlt nicht zwingend, und vermutlich ist es nur fair, die Menschen und ihren Einsatz in den Fokus zu rücken. Vielleicht war das Auslassen dieses Themas auch Bedingung der Veranstalter, das Filmteam hinter die Kulissen blicken zu lassen. Aber dass sich nicht einmal jemand am Rande genervt über eine frühmorgendliche Dopingprobe äußert, erweckt den seltsamen Anschein, als hätte es all die Skandale nie gegeben. Und dem ist eben nicht so.
Am Wochenende beginnt die "echte" Tour
Vom Timing her hat Netflix die Doku-Serie schlau veröffentlicht: An diesem Wochenende startet die Tour de France 2023. Und wer "Tour de France: Im Hauptfeld" durchgeschaut hat, weiß nun, worauf zu achten ist, wer da gegen wen kämpft – und hat sicherlich auch einen Favoriten, dem besonders doll die Daumen gedrückt wird.
Alle acht Folgen von "Tour de France: Im Hauptfeld" sind aktuell bei Netflix zu sehen.