Traditionell landet die aktuelle Staffel des Docutainment-Formats "Drive To Survive" beim Streamingdienst Netflix, eine Woche bevor die neue Rennsport-Saison beginnt. Das ist gleichzeitig irritierend und genial: Während die Formel-1-Fans sich bereits den Kopf über die neuen Autos, die neuen Team-Zusammensetzungen und mögliche Überraschungen beim ersten Rennen des Jahres (4. und 5. März in Bahrain) machen, katapultiert die beliebte Show sie plötzlich wieder ein ganzes Jahr zurück. Zurück an den Beginn der vergangenen Saison – deren Ausgang man ja bereits kennt.
Man könnte meinen, das wäre langweilig, ist es aber nicht. Viele Ereignisse, die man während der TV-Übertragung der Rennen damals nur aus Perspektive des Zuschauers miterlebte, werden hier genüsslich aus der Innenperspektive der Teams beleuchtet. Fluchende Teamchefs, zerknirschte Fahrer, wütende Fahrer, fassungslose Mechaniker. "Drive To Survive" verpasst dem oft belächelten Rennsport ein Gesicht. Statt einer Doku-Reihe vermittelt das häufig eher das Gefühl einer Soap. Emotionen, Ehrgeiz, Feindschaft, Freundschaft, Sieg und Niederlage – da kann nicht einmal "GZSZ" mithalten.
Formel 1: Duell der Teamchefs
Und so gern der cool-beherrschte Mercedes-Chef Toto Wolff oder der redselige und kameraliebende Red-Bull-Chef Christian Horner das Gesicht dieser Show wären – letztlich ist es doch immer Günther Steiner, Chef des eher schwachen Haas-Rennstalls, der die Herzen des Publikums gewinnt. Zerfurchtes Gesicht, kalter Schweiß auf der Stirn, Resignation im Blick: Für den Mann scheint es keine Verschnaufpause zu geben. Da hat Haas 2022 mal ein wirklich solides Autos, prompt fällt wegen der Sanktionen gegen Russland der russische Fahrer Nikita Mazepin weg. Vermutlich prinzipiell nicht der größte Verlust – Mazepins Leistungen waren alles andere als zufriedenstellend. Aber woher jetzt so kurzfristig einen neuen Fahrer nehmen?
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Steiner muss den Dänen Kevin Magnussen anrufen, den er wenige Jahre zuvor eigenhändig gefeuert hat. Vermutlich nicht der angenehmste Anruf. Und dann macht Magnussen auch noch einen 1A-Job – was den Teamchef ebenso zu verwirren wie zu beschämen scheint.
Nächstes Problem: Mick Schumacher, der zweite Fahrer im Stall, liefert im Vergleich zu Magnussen nicht ab, crasht hingegen mehrere Male das teure Fahrzeug. Steiner bekommt Druck von Teameigner Gene Haas, den 23-Jährigen zu schassen, während auf der anderen Seite gefühlt alle deutschen Fans für Schumacher junior jubeln und im Backstage-Bereich Mutter Corinna persönlich sitzt, mit der sich nun wirklich niemand aus der Motorsport-Branche anlegen wollen würde, aus Respekt. Eine bittere Lage ... wie immer eben.
Menschen sind spannender als Maschinen
Weiterhin sehen wir dabei zu, wie Mercedes zum ersten Mal seit gefühlt Jahrzehnten mit einem Auto hadert, das nicht perfekt läuft. Und dabei, wie Ferrari von einem grandiosen Saisonstart durch einen Strategiefehler nach dem anderen in der Tabelle nach unten purzelt. Und wieder wissen wir als Publikum ja, wie das ausgehen wird: Ferrari-Teamchef Mattia Binotto, der in "Drive To Survive" immer wieder herzig sympathische Auftritte hat, wird am Ende der Saison gehen müssen. Auch Mick Schumacher wird am Ende der Saison gehen müssen. Da sitzt man vor dem Fernseher und seufzt mitleidig.
Natürlich geht es bei der Frage, wer am Ende gewinnen wird, um die schnellsten Autos und die besten Fahrer. Unterhaltsam wird das Ganze aber erst, wenn man all die Gesichter und Geschichten hinter den flotten Boliden kennt, wenn man weiß, was ein Crash für ein Team wie Haas bedeutet (nämlich, dass Günther Steiner deprimiert: 'Ich muss dann mal Gene anrufen' murmeln und in sein Büro schlurfen muss) und dass ein Sieg von Ferrari-Fahrer Carlos Sainz keinesfalls für große Freude bei Ferrari sorgen muss. Interessant sind am Ende eben immer die Menschen hinter den Maschinen.
"Drive To Survive", Staffel 5, läuft jetzt bei Netflix.