Die Reaktionen auf die derzeitigen Probleme von Boris Becker sind von eindeutiger Schärfe. Ob im Freundeskreis oder in den sozialen Netzwerken - es wird vor allem gelacht und gelästert über das einstige Sport-Idol. Das ist nicht neu und ziemlich deutsch. Mit Häme behandeln wir unsere Helden hierzulande immer noch am liebsten. Im Fall von Becker ist diese Haltung allerdings auch eine besonders große Frechheit. Seine Verdienste als sportlicher Botschafter sind für dieses Land nicht in Geld aufzuwiegen. Das sollte bei aller Kritik, auch der berechtigten, nicht völlig aus der Wahrnehmung geraten.
In England bewundern sie Boris Becker noch
Es hat seinen Grund, dass die Leute rund um die Welt immer noch begeistert sind, sobald sie Becker sehen. Er war einer der charismatischsten Spieler, die der Tennis-Zirkus je gesehen hat. Erstaunt hat er schon vor einigen Jahren festgestellt, dass zum Beispiel die Engländer ihm in seiner Funktion als BBC-Experte mit einer Bewunderung begegnen, die ihm zuhause seit dem Ende seiner Karriere auf mysteriöse Weise verwehrt bleibt.

Tatsächlich möchte man bei der allgemeinen Reaktion auf Beckers (Privat-)Angelegenheiten gelegentlich fragen: Habt ihr eigentlich alle vergessen, was wir ihm zu verdanken haben? Mit keinem Spieler in der Sportgeschichte haben die Deutschen so mitgefiebert, mitgefeiert, mitgelitten wie mit Becker. Heute erinnern sich Tennis-Fans von Melbourne bis Flushing Meadows gerne mit Gänsehaut an die epischen Dramen, die sie mit Becker auf dem Court erlebten. Nur in Deutschland denkt daran anscheinend kein Mensch mehr.
Fast anderthalb Jahrzehnte lagen zwischen Beckers erstem Wimbledon-Sieg 1985 und seiner letzten Karriere-Niederlage gegen Patrick Rafter ebendort. In diese Zeit fallen zahlreiche unvergessliche Momente. Wie er John McEnroe 1987 im längsten Davis-Cup-Match aller Zeiten niederrang und sich dabei auch nicht von den fanatisch-unfairen Fans im US-amerikanischen Hartford einschüchtern ließ; wie er 1991 bei den Australian Open mit dem Finalsieg gegen Ivan Lendl zur Nummer eins der Weltrangliste wurde; wie er im selben Jahr das deutsche Wimbledon-Finale gegen Michael Stich sang- und klanglos verlor; wie er die ATP-WM in Frankfurt Jahr für Jahr zu seinen ganz persönlichen Festspielen machte.
Becker war nie so glatt wie Steffi Graf, so unschlagbar wie Michael Schumacher oder so elegant wie Franz Beckenbauer. Trotzdem haben die Deutschen ihn vereinnahmt wie einen leiblichen Sohn, was auch den irrationalen Gegenwind, den er heute bisweilen erfährt, ein bisschen erklärt. Seine Siege feierten sie wie eigene, seine Niederlagen nahmen sie höchstpersönlich. Sie sind mitten in der Nacht für ihn aufgestanden, um das Erstrunden-Match bei den US Open gegen irgendeinen Qualifikanten zu sehen. Becker machte Deutschland damals zur Tennis-Nation. Er versammelte ein frisch vereintes Volk vor dem Fernseher. Und er machte es immer spannend, weil er verwundbar war - auf und neben dem Platz. Er konnte auf der Tour gegen jeden Spieler gewinnen - aber auch gegen jeden verlieren. Wirklich gegen jeden.
Bei Becker gab es nur ganz oder gar nicht
Boris Becker hat als 17-Jähriger das größte Tennisturnier der Welt gewonnen. Er ist damit bis heute der jüngste Wimbledon-Sieger aller Zeiten. Wer würde einen solchen Triumph und den damit verbundenen Aufstieg zum Nationalhelden und Weltstar gänzlich unbeschadet überstehen? Viele seiner späteren Verfehlungen sind auch, wenn nicht sogar alleinige Folge dieser Tatsache.
Die Deutschen gehen auch deshalb immer noch so distanzlos und respektlos mit Becker um, weil er sie damals so nah an sich heran gelassen hat. Auf dem Platz legte er alle Emotionen offen, seine Nerven waren dort entweder aus Stahl oder lagen blank - bei Becker gab es nur ganz oder gar nicht. Das bedeutet: Die Magie, die früher vom Sportler Becker ausging, ist gleichzeitig der Fluch, der heute auf ihm liegt.
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