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NEON-Kurzgeschichte "Norderstedt" Flucht aus der Vorstadt – dieser Moment, wenn du merkst, dass du endlich ausziehen musst

Fionas Leben fühlt sich nach Stillstand an. Die 20-Jährige hat die Schule beendet und ein freiwilliges soziales Jahr absolviert – aber sie hängt immer noch in ihrem Heimatkaff Norderstedt vor den Toren Hamburgs fest. Die neue Folge unseres Podcasts "Norderstedt" – die NEON-Kurzgeschichte.

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Es gab keinen großen Knall, nur ein ständiges Hämmern. Wie jeden Morgen wurde Fiona geweckt von den Bauarbeitern, die auf der frei gewordenen Fläche neben ihrem Elternhaus malochten. Sie drehte sich zur Seite und blinzelte aus dem Fenster. Draußen hantierten die Blaumänner mit Spitzhacken und Holzbrettern, trafen die ersten Vorbereitungen. Ein Mehrfamilienhaus sollte dort entstehen: ein paar kleine Wohnungen, einige Büroräume, auch Fionas Vater wollte mit seiner Versicherungsfirma eine Etage in dem Neubau beziehen.

Für Fiona funktionierte das Hämmern als regelmäßige Erinnerung, dass die Uhr tickte. Sie wurde 21 Jahre alt in diesem Sommer. Sie hatte ihr Abitur mit Bravour gebaut und anschließend ein freiwilliges soziales Jahr beim Ortsverein des DRK absolviert. Sie wohnte noch bei ihren Eltern. Nebenbei nutzte sie jede freie Minute zum Schreiben: ein paar Reportagen, Kurzgeschichten, erste Kapitel für einen Roman. Das Schreiben war mehr als ein Hobby, für Fiona war es wahre Liebe. Sie konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als tagein, tagaus mit Worten zu spielen. Aber noch hatte sie sich nicht getraut, die Texte irgendwo einzureichen.

Sie konnte Max nicht vorwerfen, dass er sie nicht ermutigen würde. Er hatte ihr die Sache mit Tim immer noch nicht verziehen, das Thema kochte regelmäßig hoch. Es spielte dabei keine Rolle, dass sie den Kontakt mit Tim sofort abgebrochen hatte. Das war für Max ohnehin selbstverständlich. Trotzdem tat er sich immer noch sehr schwer mit dem Betrug, denn für ihn war es nicht weniger als das: Betrug. Er war kein besonders eifersüchtiger Typ gewesen, aber Fionas Flirt mit Tim hatte alles verändert. Er verfolgte ihn bis in seine Träume und es war ihm egal, was wirklich zwischen den Beiden gelaufen war, denn er wusste: Fiona war eine Frau des Wortes, und selbst wenn sich ihr Flirt nur auf den Whatsapp-Verlauf beschränkt hatte, wog der Verrat deshalb nicht weniger schwer als ein Quickie im Gebüsch. Eher schwerer.

Unabhängig von diesen dunklen Gedanken war seine Unterstützung für Fionas Traum von der Schriftstellerkarriere ungebrochen. Max hielt seine Freundin für ein Genie. Sie treffe den Ton einer ganzen Generation, fand er. Sie solle sich mal umhören, riet er ihr immer wieder, und Redaktionen oder Verlage anschreiben. Fiona fand den Gedanken irgendwie abwegig, aber sie fühlte sich geschmeichelt. Sie hatte keine Ahnung, wie gut sie war. Sie wollte nur irgendwann vom Schreiben leben können. Das war ihr großer Traum. Ihr einziger Traum. Jeder hat diesen einen Traum, der alle anderen überlagert: Das Schreiben war ihrer – das Schreiben zum Leben, ein Leben fürs Schreiben. Aber ihr war auch klar, dass sie es nicht von Norderstedt aus schaffen würde. Sie musste raus aus diesem Kaff, lieber gestern als morgen.

Fiona hatte ihr ganzes Leben in Norderstedt verbracht. Sie hatte sich als Kind auf der nicht enden wollenden Ochsenzoller Straße wilde Fahrradrennen mit ihrem Bruder geliefert; sie hatte als Teenagerin jeden Tag mit ihren Freundinnen in den Shopping-Passagen des Herold-Center abgehangen wie amerikanische Serienprotagonistinnen in einer seelenlosen Mall; sie hatte Nächte in einer Diskothek namens "Alptraum" durchgetanzt, auf viel zu hohen Plateausohlen. Fiona war im Stadtteil Garstedt aufgewachsen – "in Garstedt, wo das G für Gefahr steht", wie die Einwohner gerne scherzten –, und von dort dauerte es mit der U-Bahn nur eine knappe halbe Stunde bis ins Herz von Hamburg. Manchmal ist die Entfernung zwischen zwei Welten ganz klein. Für Fiona schien sie nicht zu bewältigen. Weshalb sie befürchtete, zum Klischee zu verkommen.

Sie schrieb an einem Manuskript – einem Roman mit dem Arbeitstitel "Norderstedt", der von der Flucht in die große Stadt handelte. Nicht die regelmäßige Flucht auf den Kiez, zum Partymachen am Freitagabend, sondern die Flucht des Umzugs in ein neues Leben, inklusive der brennenden Brücken, die dabei zurückbleiben. In der Realität war diese Flucht noch nie mehr als ein Plan gewesen, aber auf dem Papier machte Fiona diesen Plan wahr. Ihr Roman funktionierte wie eine Art Tagebuch, dem sie sich anvertraute. In "Norderstedt" erzählte sie davon, wie es sein könnte. Sie wusste nicht, ob sie auch davon erzählte, wie es wirklich kommen würde.

Fiona freute sich immer, wenn Max ihr ein Kompliment für diese Texte machte. Aber in diesem Sommer konnte sie sein Urteil plötzlich nicht mehr ernst nehmen. Es war zu viel passiert zwischen ihnen. Sie schämte sich dafür, weil sie seit fünf Jahren mit ihm zusammen war und ihn immer noch sehr mochte, aber ihn trotzdem fast mit Tim betrogen hatte. Fiona brauchte ein paar Tage, ehe sie realisierte, dass Tim nur ein Symbol für ihre Sehnsucht nach Aufbruch und Veränderung dargestellt hatte. Diese Illusion war abrupt aufgeflogen, als Max den Chat der Beiden entdeckt hatte.

Es fiel Fiona nicht leicht, die Konsequenzen aus dieser Einsicht zu ziehen, weil Tim die Sache ein bisschen anders sah und offenbar sehr verliebt in sie war. Das sorgte für unangenehme Situationen bei den gemeinsamen Schichten im Restaurant, aber Fiona beschränkte die Konversation fortan auf das Nötigste. Für sie zählte nur noch Max. Er war damals ihre erste große Liebe gewesen und sie hatten ihre Beziehung gegen viele Widerstände behauptet. Er war fast zehn Jahre älter als sie und in Norderstedt genügte dieser Altersunterschied zum Skandal. Aber die verächtlichen Blicke an der Bushaltestelle hatten das Pärchen nur noch enger zusammengeschweißt.

Max wurde bald 30 Jahre alt und kannte nichts außer Norderstedt, auch im Urlaub hatte er es nie weiter als Gran Canaria geschafft. Norderstedt lähmt dich, schrieb Fiona in ihrem Roman. Und Max hatte sich verändert in den vergangenen Monaten. Fiona machte es an Kleinigkeiten fest. Man muss die Zeichen richtig deuten, dachte sie.

Zum Beispiel wollte Max jetzt immer "Tatort" gucken, an jedem verdammten Sonntag. Er fand es "gemütlich", vor dem Fernsehabend zusammen zu kochen und beim Essen "einen schönen Roten" zu trinken. Er, der früher Jägermeister aus der Bierbong gesoffen und 48 Stunden durchgefeiert hatte, zelebrierte seine Spießigkeit inzwischen mit dem größten Vergnügen. Vor der Arbeit rasierte er sich jeden Morgen glatt – wenige Wochen zuvor waren fünf Tage noch die kürzeste Bartlänge gewesen, seit Fiona ihn kannte.

Sie bekam es deshalb mit der Angst zu tun. Immer wieder jaulten die Sirenen in ihrem Kopf. Sie stand mit Max im Supermarkt an der Kasse. Die Schlange war lang. Irgendwann kam die Durchsage, dass auch die Kasse nebenan geöffnet würde. Die Jogginghosen tragenden Einkäufer, die hinter ihnen in der Schlange standen, stürzten daraufhin zum Nachbarband. Fiona dachte kurz darüber nach, wütend zu werden, amüsierte sich dann aber doch lieber über die Szenerie. "Die Leute, die sich vordrängeln, wenn eine neue Kasse öffnet", sagte sie zu Max, "das sind immer genau die Leute, in deren Leben es nun wirklich nicht auf fünf Minuten ankommt." Sie lachte und nahm sich vor, diese Beobachtung für ihren Roman zu verwenden. Max starrte sie an und sagte: "Kapier ich nicht."

Er hatte mit dem Rauchen aufgehört, und obwohl sein Konsum jahrelang bei rund anderthalb Packungen pro Tag gelegen hatte, fuchtelte er jetzt ständig hektisch mit den Händen, sobald ihm auf irgendeiner Terrasse ein bisschen Qualm ins Gesicht wehte. Fiona hatte dagegen keine Lust, mit dem Rauchen aufzuhören. Max erzählte ihr deshalb gerne Horrorgeschichten von gelben Fingern, schwarzen Lungen und den grauen Gesichtern jahrzehntelanger Kettenraucher. "Ist dir mal aufgefallen", erwiderte Fiona eines Tages und steckte sich eine Zigarette an, "dass schöne Menschen noch schöner werden, wenn sie rauchen, hässliche Menschen dagegen noch hässlicher?" Max starrte sie an und sagte: "Kapier ich nicht."

Genau das ist das Problem, dachte Fiona: Ich kapier dich auch nicht mehr. Und eigentlich kannst du gar nichts dafür.

Sie schämte sich, weil sie sich darüber ärgerte, dass er ihr die Sache mit Tim verziehen hatte.

Jede Nacht lag sie wach und ihr ganzer Körper fühlte sich taub an. Probeliegen für den Sarg, dachte sie und machte sich noch eine Notiz für den Roman. Sie sehnte sich nach Aufbruch. Nachts schien es draußen noch schwärzer zu sein als früher. Sie stellte sich ihr Buch im Regal bei Thalia vor und ihren Namen auf den Feuilleton-Seiten der "Süddeutschen Zeitung". In ihrem Kopf sang ein Chor aus schiefen Stimmen von einem Leben, das sie verpasste. Irgendwann dämmerte sie weg und träumte davon, wie sie in ihrem Zimmer eingesperrt war und die Wölfe an der Tür kratzten, bis das ständige Hämmern sie schließlich aus dem Schlaf holte.

Fionas Vater hatte große Pläne mit ihr. Sie sollte bei ihm in der Firma einsteigen, er wollte sie langsam zur Abteilungsleiterin aufbauen. Eine Ausbildung zur Versicherungskauffrau war dafür eigentlich Voraussetzung. Fiona hatte ihre künstlerischen Ambitionen vor ihren Eltern immer geheim gehalten, außer Max wusste überhaupt niemand von ihren Fähigkeiten. Die Menschen in Norderstedt hatten kein Verständnis für Künstlerquatsch oder komische Träume, das wahre Leben war ihnen Verwirrung genug. Trotzdem fühlte Fiona eine heimliche Enttäuschung darüber, dass die Eltern ihr Talent nie bemerkt hatten. Wann immer ihr Vater von der selbstständigen Arbeit in der Versicherungsbranche schwärmte, spürte sie Druck auf der Brust.

Dieser Druck machte sie wütend, denn normalerweise ließ sie keinen Druck zu. Druck war die Volkskrankheit in ihrem Freundeskreis, sie alle hatten Druck: den Druck, cool zu sein, den Druck, durchzublicken, den Druck, dauernd Sex zu haben, und den Druck, einen Plan zu haben. Sie spürten den Druck vor allem deshalb, weil sie am liebsten zuhause geblieben wären. Während Fiona nicht erwarten konnte, die Welt zu erfahren, wollten die Anderen lieber Netflix gucken und chillen. Auch Max war so: Wann immer die Bilder eines neuen Anschlags um die Welt gingen, wollte er wochenlang nicht unter Leute gehen. Es war immer dasselbe: Fiona hatte Lust, ihre Freunde hatten Angst.

Um Fiona herum stieg der Druck ständig, aber sie fühlte sich davon nicht betroffen. Sie hatte das Schreiben als Gegenmittel entdeckt – nicht nur als Trost im Kopf, sondern als Trumpf in der Hand, der nur darauf wartete, ausgespielt zu werden und ihr ein besseres Leben zu bescheren. Und in diesem Sommer wurde Fiona endgültig klar, dass es nur an ihr lag. Auf den großen Knall konnte sie lange warten, nämlich für immer. Veränderung wird umso schwieriger, wenn ständig alles so bleibt, wie es war – klingt logisch, macht die Sache aber kompliziert. Fiona wusste, sie würde die Sache selbst in die Hand nehmen müssen: den großen Schritt, den klaren Schnitt.

Aber sie traute sich nicht. Sie würde ihren Vater vor den Kopf stoßen, denn er rechnete fest mit ihr. Für die Sicherheit, die er ihr bot, hätten ihre Freunde alles gegeben – bei Fiona sorgte diese Sicherheit bloß für Beklemmung. Außerdem würde sie Max verlieren. Er würde niemals nach Hamburg ziehen wollen. Im Gegenteil: Er malte sich längst den Alltag im Altbau aus, in dem er mit ihr alt werden wollte, mit zwei oder drei Kindern – einem Mädchen, einem Jungen, und dann vielleicht noch einem.

Fiona dachte über Verantwortung nach. Wie lange wollte sie noch warten, nur weil sie Angst hatte, Max zu verletzen? Wie lange würde sie ihrem Freund noch dabei zusehen, wie er immer bequemer und ambitionsloser wurde? Wie lange wollte sie zögern, endlich eine vermeintlich egoistische Entscheidung zu treffen, nur um mit diesem Zögern noch viel egoistischer zu handeln? Wie lange würde sie ihm verschweigen, dass ihre Lebensplanungen nicht unterschiedlicher sein konnten, obwohl Max so hart mit sich gekämpft hatte, bis er ihr die Sache mit Tim endlich verziehen hatte? Aber Tim war nur ein Symptom, das sie erfolgreich bekämpft hatte. Am Befund hatte sich nichts geändert.

Und wie lange wollte Fiona ihren Vater noch glauben lassen, dass auch ihr Leben nicht über die Grenzen von Norderstedt hinausführen würde? Wann würde sie endlich ein Streichholz in die Luft werfen, auf den Rest ihres Lebens?

Allein beim Gedanken an all diese Fragen drohte ihr Herz zu platzen.

Doch es gab keinen großen Knall, nur ein ständiges Hämmern. Wie jeden Morgen wurde Fiona geweckt von den Bauarbeitern, die auf der frei gewordenen Fläche neben ihrem Elternhaus malochten. Sie drehte sich zur Seite und blinzelte aus dem Fenster. Draußen war plötzlich nichts mehr zu sehen außer einer Mauer aus Backsteinen. Die Fassade stand. Fiona schreckte hoch. Man muss die Zeichen richtig deuten, dachte sie. Wenn die Wände näherkommen, ist es endgültig Zeit zu gehen.

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