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Alles begann mit einem Knall. Die Erschütterung ließ den Duschvorhang vibrieren. Max hatte offenbar mit voller Wucht die Wohnzimmertür zugeschlagen. Fiona rief nach ihm, aber er antwortete nicht. Dann noch ein Knall. Die Küchentür. In dem kleinen Regal über dem Waschbecken klapperten die Zahnputzbecher. Anschließend war es für einen Moment ganz still. Ein Tropfen perlte vom Hahn ins Becken. Ein helles Ploppen hallte nach.
"Max, was soll das?"
Es gab keinen Grund für ihn, mit den Türen zu schlagen.
Oder?
Max antwortete nicht. Fiona rutschte unruhig auf der Klobrille herum.
"Max! Was ist los?"
Sie hörte ihn an der Badezimmertür vorbeistapfen.
"Max!"
Er antwortete nicht und Fiona schnellte panisch hoch. Sie vergaß sogar, sich die Hose hochzuziehen und stürzte auf den Flur. Sie verlor das Gleichgewicht und landete auf den Knien.
"Max, wo willst du hin?"
Er hatte den Autoschlüssel in der Hand und stand schon in der Wohnungstür. Fiona rappelte sich auf, stolperte aber gleich wieder über ihre Hose, die in Knöchelhöhe hing.
"Geht dich nichts an, du Schlampe", zischte er, als würde er mehr mit sich sprechen als zu ihr. Fiona hatte noch nie einen Kraftausdruck aus seinem Mund gehört. Er hatte zwar eine große Klappe, wurde aber nie vulgär.
"Max, ich habe keine Ahnung, was los ist." Fiona kniete wie vor einem Kreuz, die Hände zum Gebet gefaltet.
Plötzlich drehte Max den Kopf doch zu ihr, ruckartig, wie erschrocken. Er starrte sie mit roten Augen von oben herab an und verzog die Mundwinkel wie unter Schmerzen.
"Du hast keine Ahnung?", fragte er, als wollte er Fiona provozieren.
Fiona ließ die Schultern hängen. Sie wusste wirklich nicht, was los war. Vorhin im Supermarkt waren sie noch kichernd und knutschend und händchenhaltend durch die Gänge geturtelt, auf der Suche nach feuchtem Toilettenpapier. Es war ein Samstag im August, und weil sie den Tag im Freibad und fast jeden Abend der vorangegangenen Woche auf der Terrasse irgendeiner Bar bei Gin Tonic in der Abendsonne verbracht hatten, freuten sie sich auf einen Netflix-Abend auf der schattigen Couch. Seit einem Jahr wohnten sie nun schon in dieser schönen Altbauwohnung mit dem Stuck an der Wohnzimmerdecke – eine der wenigen dieser Art in Norderstedt. Sie lag im vierten Stock, weshalb jedes Nachhausekommen einer Bergbesteigung gleichkam. Wer Fiona und Max besuchen wollte, kam keuchend oben an. Den Beiden ging es kaum besser – sie mussten die Treppen zwar täglich steigen, am Ende schnappten sie trotzdem jedes Mal nach Luft.
"Kein Problem", sagte Max dann immer und lachte, "wenn wir irgendwann alt sind und es an den Gelenken haben, lassen wir einen Treppenlift einbauen."
Fiona wurde ganz warm, wenn er solche Sachen sagte. Max war fest davon überzeugt, dass sie in dieser Wohnung bleiben würden. Dass sie hier zwei bis drei Kinder großziehen und alt werden würden.
Nackt und mit herunterhängenden Jeansshorts stand Fiona vor Max und wiederholte, dass sie keine Ahnung hatte.
"Du hast keine Ahnung", äffte er sie nach und bedachte sie mit einem Blick, der mitleidig wirken sollte, dafür aber viel zu hasserfüllt war. "Vielleicht solltest du Tim fragen, vielleicht hat der ja eine Ahnung ..."
Max stockte kurz, als müsse er sich sammeln, dann schrie er los: "Aber wahrscheinlich ist er gerade wieder so horny auf dich, dass er gar nichts mehr mitkriegt!"
Das horny zog er hämisch in die Länge.
Tim. Fiona war erschrocken. Über die Wut in seiner Stimme und den Hass in seinen Augen, aber vor allem über sich selbst und was die Erwähnung dieses Namens in ihr auslöste, denn an Tim hatte sie gar nicht gedacht. Überhaupt Tim: Der Name klang aus Max’ Mund schlimmer als Kreide auf der Tafel. Die Möglichkeit, dass Max zufällig auf ihr Handy schauen würde, war immer gegeben. Sie kannten sogar die Passwörter des anderen, denn eigentlich hatten sie keine Geheimnisse voreinander.
Zumindest bis vor ein paar Wochen.
Denn seit ein paar Wochen hatte Fiona sehr wohl etwas zu verbergen. Nur dass es auffliegen könnte, dafür war in ihren Gedanken bisher kein Platz gewesen. Aber was hatte das zu bedeuten? Handelte es sich bei ihrer Sorglosigkeit um ein besonders respektloses Verhalten gegenüber Max? Oder bedeutete es im Gegenteil bloß, dass ihr die Sache mit Tim nicht wichtig genug war?
In ihrer Feigheit beschloss Fiona, dass sie die Falsche war, um darüber zu urteilen.
Sie erinnerte sich: "Ich bin so horny auf dich", hatte Tim gestern nach der Arbeit noch geschrieben, in ihrem Whatsapp-Chat, der binnen weniger Wochen bereits auf einige Kilometer Länge angewachsen war – einige Kilometer voller Sehnsuchtsbekundungen und dirty talk. Das so hatte Tim mit ungefähr 20 Os geschrieben.
Max stand immer noch in der Tür und starrte auf Fionas Gesicht, als suchte er dort nach Unregelmäßigkeiten. Sein Blick war betäubt und gleichzeitig spiegelten sich in ihm hunderte von Fragen, die er sich stellte oder ihr stellen wollte. Seine Augen verrieten, dass er nicht wusste, mit welcher Frage er beginnen sollte.
"Wo willst du denn hin?", fragte stattdessen Fiona und ihre Stimme überschlug sich. "Bitte bleib hier, bitte!"
Sie stand vorsichtig auf, ohne sich die Hose hochzuziehen. Max musterte ihre nackten Beine und machte dabei ein Gesicht, als würde er ein ekliges Youtube-Video ansehen. Zu ihrer eigenen Überraschung fiel Fiona tatsächlich nichts Besseres ein als der Satz: "Es ist nicht so, wie du denkst."
Sie sagte diese Worte wirklich – als wäre das Leben eine ZDF-Vorabendserie: Es ist nicht so, wie du denkst. Dabei wusste sie gar nicht, was Max dachte. Er lachte laut auf, dann schüttelte er den Kopf und sagte mit einer Stimme, die so betont souverän klang wie die eines Nachrichtensprechers: "Weißt du was? Es geht dich nichts mehr an, wo ich hingehe! Warum gehst du nicht zu deinem Tim und fickst ihn in den Wahnsinn?! Er ist doch sooo horny auf dich ..."
"Max ..." Fiona streckte die Hand nach ihm aus, als hingen sie gemeinsam in der Gletscherspalte, aber er drückte sie weg wie einen aufdringlichen Flirt im Club.
"Halt den Mund!", fuhr er sie mit zitternder Lippe an. "Fass mich nicht an! Fass mich nie wieder an! Was bist du nur für ein Mensch! Ich kenne dich überhaupt nicht mehr ..."
Er schlug die Tür hinter sich zu und war weg. Fiona hatte ihn noch nie so gesehen. Sie war schockiert über seine Wut. Gleichzeitig schämte sie sich dafür, dass sie diese Wut nicht wirklich ernst nahm. Weil sie sich nicht vorstellen konnte, ihn tatsächlich zu verlieren – ganz egal, wie groß der Hass in seinen Augen gerade war. Sie wusste, dass sie ihm alles erklären konnte. Dass sie ihm zumindest die Situation so darlegen konnte, dass er ihr verzeihen würde. Weil es in Wirklichkeit alles halb so wild war. Weil es nicht so war, wie er dachte. Und weil sie ihn doch immer noch liebte. Sie war überzeugt, dass sie ihn wieder von sich überzeugen würde.
Dabei hätte sie sich lieber fragen sollen, ob sie ihn überhaupt noch überzeugen wollte.
Als Max weg war, überkam Fiona die Panik. Endlich zog sie die Shorts wieder über die Hüfte. Erst jetzt stellte sie fest, wie verbraucht sich der Jeansstoff auf ihrer Haut anfühlte, verbraucht von der Hitze des Tages, aber es störte sie nicht. Ihr war plötzlich alles egal, solange sie Max nur die Situation erklären konnte. Wobei: Was gab es schon groß zu erklären? Beziehungsweise, und vor allem: Wie wollte sie sich rechtfertigen?
Die Beweislage war eindeutig: Max hatte den Whatsapp-Chat gelesen, in dem sie mit Tim seit Wochen so hemmungslosen Sex textete, dass ihr manchmal ganz schwindlig wurde. Was sie selbst erstaunte, war die Tatsache, dass sie sich in der gesamten Zeit gegenüber Max nichts hatte anmerken lassen. Sie hatte kein schlechtes Gewissen. Warum auch immer, aber sie konnte das strikt trennen: Auf der einen Seite ihre glückliche, vertraute und im besten Sinne gemütliche Beziehung mit Max – seit nunmehr drei Jahren hatten sie es ohne Krisen, sogar ohne nennenswerten Streit miteinander hinbekommen.
Auf der anderen Seite Tim.
Tim war erst seit ein paar Monaten ihr Kollege in dem griechischen Restaurant, wo sie nebenbei kellnerte. Schon bei der ersten Begegnung hatten sie es kaum fertig gebracht, den Smalltalk in der Küche nach einer gefühlten Stunde auch mal wieder zu beenden. Fiona war von Anfang an fasziniert von Tim, wie er sie anguckte und was er von der Welt zu erzählen wusste, und zu ihrem großen Erstaunen ging es ihm genauso. Im Gegensatz zu Max konnte sie mit ihm sogar über Literatur reden, und beinahe hätte sie ihm von ihren schriftstellerischen Ambitionen erzählt. Trotzdem hatte sie ihn zunächst nur für einen coolen Typen gehalten, vielleicht insgeheim ein bisschen für ihn geschwärmt, darüber hinaus aber keinen weiteren Gedanken an ihn verschwendet.
Schließlich war sie glücklich in ihrer Beziehung mit Max, sie hatte sich mit ihm immer wohl gefühlt. Sie konnten vielleicht nicht zusammen über Bücher reden, aber an keinem Ort der Welt fühlte sie sich so sicher wie an seiner Schulter. Fiona und Max waren auf einer Wellenlänge, und auch wenn sie nicht mehr ganz so wild aufeinander waren wie am Anfang, mangelte es zwischen ihnen immer noch nicht an der nötigen Leidenschaft. Kurz: Sie hatte keinen Grund zu zweifeln. Sie war nicht unzufrieden, und sie war auch nicht auf der Suche nach Bestätigung durch andere Männer. Das hatte sie noch nie nötig.
Doch dann ließ Tim sie plötzlich wissen, was er für sie fühlte. Aus zufälligen Smalltalks waren schnell gemeinsame Raucherpausen geworden, aus gemeinsamen Raucherpausen das eine oder andere Feierabendbier: "Ich gehe noch was trinken mit den Kollegen", schrieb Fiona ihrem Freund dann bei Whatsapp und fühlte sich dabei nicht wie eine Lügnerin. Irgendwann häuften sich die Momente, in denen Fiona und Tim kurz davor waren, sich zu küssen. Die Luft zwischen beiden war zum Schneiden heiß und sie wurden regelrecht süchtig nach diesen kleinen Momenten zu zweit. Es fiel Fiona immer schwerer, sich zusammenzureißen. Immer häufiger riss sie ihm in Gedanken einfach die Kleider vom Leib.
Aber es kam nicht zum Kuss zwischen ihnen, geschweige denn zu mehr, weil Fiona sich stets in letzter Sekunde bremsen konnte, während Tim längst zu allem bereit war. Vielleicht war das ein Grund, warum sich ihr schlechtes Gewissen gegenüber Max zunächst in Grenzen hielt, denn auch wenn der Flirt zwischen Tim und ihr immer expliziter wurde, fühlte es sich für Fiona nicht wie Betrug an. Hätte sie irgendjemand gefragt, hätte sie ehrlicherweise kaum abstreiten können, dass sie hoffnungslos verknallt war in Tim. Aber es fragte niemand, auch wenn die Kollegen im Restaurant natürlich längst begonnen hatten zu tuscheln, da die beiden Turteltauben in jeder freien Minute nur noch gemeinsam gesehen wurden.
Seltsam beruhigend wirkte auf Fiona außerdem, dass Tim ebenfalls in einer Beziehung war. Er war zwar nicht mehr glücklich mit seiner Freundin und dachte im Gegensatz zu Fiona offen über eine Trennung nach, außerdem gab er beim Flirten deutlich mehr Gas als Fiona, aber sie bildete sich ein, dass er keine Ansprüche an sie stellen konnte, solange er noch mit seiner Freundin zusammen war. Mit dieser Gewissheit konnte Fiona die Momente mit ihm weiter unbeschwert genießen. Dachte sie zumindest. Wie falsch sie damit lag, machte Tim ihr eines Abends mit einer Whatsapp-Nachricht deutlich: "Ich will mit dir schlafen, verstehst du? Ich will das so sehr! Ich will dich so sehr, Fiona!"
Fiona stand der Mund offen, als sie diese Zeilen las. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass es sich hier nicht bloß um ein Spiel handelte. Es törnte sie nur noch mehr an. Sie konnte nicht mehr verdrängen, dass längst eine Menge auf dem Spiel stand, aber für sie war ausgeschlossen, den Flirt mit Tim zu beenden. Im Gegenteil: Sie konnte kaum erwarten, wie es weitergehen würde, wie er um ihre Gunst kämpfen würde. So beschämend es klingt, aber in dieser Phase dachte sie überhaupt nicht an Max. Die Sache mit Tim war wie eine Reise in eine andere Welt. Und es fühlte sich deshalb auch nicht an, als würde sie fremdgehen. Körperlich entsprach das ohnehin den Tatsachen (wie gesagt: nicht einmal ein Kuss!), aber in ihrem Kopf hätte der Betrug an Max trotzdem nicht größer ausfallen können. Umso entschlossener war sie nun, da dieser Betrug aufgeflogen war, dem Spuk ein Ende zu setzen.
Fiona wusste genau, wo Max hingefahren war. In so einer Situation gab es für ihn nur eine Ansprechpartnerin. Sie durfte jetzt keine Zeit verlieren. Schließlich war es sein Recht, so schnell wie möglich ihre Version der Geschichte zu hören. Außerdem konnte sie den Gedanken nicht ertragen, dass er sich wegen ihr schlecht fühlte. Es gab keine Zeit zu verlieren. Ihr Herz pochte im Hals, als sie die Wohnungstür hinter sich schloss.
Wie oft würde sie diese Tür wohl noch hinter sich schließen?
Sofort verbot sie sich derartige Gedanken.
Auf dem Weg nach unten nahm sie jeweils drei Stufen auf einmal.
Fiona stürzte auf die Straße. Es war heiß und hell, und die Häuser leuchteten in einem gestochen scharfen Weiß, wie es in der Hamburger Vorstadt nur an wenigen Sommertagen im Jahr zu sehen ist. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte sich zu erinnern, wo sie geparkt hatte, während sie ins Licht blickte. Ihr kam es vor, als hätte sie auf einmal ihr ganzes Leben vergessen, als könne sie sich an absolut nichts mehr erinnern. In ihrem alten Ford Fiesta drehte sie das verdammte Radio, das ihr sonst den letzten Nerv raubte, so laut auf, als ob sie mit dem Lärm ihre Gedanken übertönen wollte. Kira wohnte in einer Gegend am Stadtrand, in der es so ruhig und gesittet zuging, dass es Fiona besonders unhöflich vorkam, als sie Sturm klingelte. Zum Glück öffnete Kira trotzdem die Tür.
Sie schien mit Fionas Auftauchen gerechnet zu haben und nahm sie zu deren Verwunderung fest in den Arm: "Nur dass du es weißt", flüsterte sie ihr ins Ohr, "ich bin auf deiner Seite."
"Kira, ich schwöre, ich habe ihn nicht betrogen."
"Ich weiß, ich weiß", sagte sie und winkte ab.
Fiona kamen die Tränen. Das hatte sie unbedingt vermeiden wollen. Vielleicht lag es an dem verständnisvollen Gesicht, das Kira machte. Sie war seit dem Sandkasten mit Max befreundet und Fiona konnte nicht anders, als sie deshalb als Konkurrentin zu sehen. "Zwischen uns ist nie was gelaufen", hatte Max auf Nachfrage immer wieder glaubhaft betont, aber Fiona konnte sich das nicht vorstellen. Gegenüber Kira hatte sie sich deshalb immer cool und distanziert gegeben. Jetzt stand sie vor ihr und heulte.
"Ich würde Max niemals wehtun."
Kira nahm Fionas Gesicht in beide Hände und lächelte sie an: "Ich weiß. Max ist auf dem Balkon. Er wartet schon auf dich."
Max würdigte Fiona zunächst keines Blickes, sondern starrte auf das halbvolle Bierglas, das vor ihm auf dem Tisch stand, während er tief an seiner Zigarette zog.
"Ich habe keine Ahnung, was du hier willst", murmelte er, als sie sich zu ihm setzte.
"Ich weiß nicht", hob sie an, "was ich mir dabei gedacht habe."
Sie schämte sich so sehr, dass sie den Kopf senken musste.
"Wahrscheinlich habe ich gar nichts gedacht", fuhr sie fort.
Max blickte auf. Sie saßen sich jetzt gegenüber wie ein verzweifeltes Paar beim Besuchstermin im Gefängnis. Die Frage war bloß, wer von beiden der Inhaftierte war. Wie Max so vor ihr kauerte mit roten, toten Augen und Tränenspuren auf der Wange, wurde Fiona auf einmal bewusst, welchen wunderbaren Menschen sie so schwer verletzt hatte: Max war ihr bester Freund und der loyalste Partner, den sie sich vorstellen konnte. Er liebte sie mit einer Bedingungslosigkeit, die für ihn so selbstverständlich schien, dass Fiona sie womöglich genau deshalb nicht immer ausreichend zu schätzen wusste.
Kurz: Max hatte nicht verdient, dass sie ihn so hintergangen hatte. Egal, wie wenig Fiona ihr Fremdflirt bedeutete. Ab sofort würde es nur noch um ihn gehen, schwor sie sich, nur noch um Max.
Zitternd nippte sie an ihrem Glas.
"Ich liebe dich", sagte sie. "Du musst mir glauben, Max: Es gibt für mich keinen anderen Mann!"
Er schmunzelte wie über einen schlechten Witz.
"Max, ich habe dich nicht betrogen ... wirklich nicht!"
"Was soll das heißen?", fragte er scharf. "Dass du ihm nicht den Schwanz gelutscht hast?"
"Ja, also, nein", stammelte Fiona, "ich habe seinen Schwanz nicht ..."
"Ich will es nicht hören!", fiel er ihr ins Wort. "Er hat dir Dick Pics geschickt. Du hast mit einem Hurensohn, der dir verdammte Dick Pics von sich schickt, getextet ... und du behauptest, dass du mich nicht betrogen hast?!?"
"Ich habe Tim nicht mal geküsst!", protestierte Fiona, als ob es sie und die ganze Geschichte in ein besseres Licht rücken würde.
"Tim", sagte Max und spuckte dabei förmlich aus. "Was ist das überhaupt für ein behinderter Name?"
"Max, ich will doch nur mit dir zusammen sein. Du bist mein Mensch!"
"Und du bist ein schlechter Mensch", sagte Max und ließ es wie eine abschließende Diagnose klingen.
Sie schwiegen für einen Moment, in dem er an seinem Glas nippte und an der Zigarette zog.
"Ich weiß nicht, was passiert, wenn ich diesem Wichser begegne", murmelte er, "ich glaube, dann muss ich ihn totschlagen ..."
"Max!" So redete er normalerweise nicht.
"Ich will nichts mehr von dir hören", sagte er.
"Max", hob sie abermals an, aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte, also schwiegen sie wieder.
"Das war doch jetzt nicht alles, oder?", traute Fiona sich irgendwann in die Stille zu fragen.
"Was war jetzt nicht alles?"
"Mit uns."
Max zuckte mit den Schultern. "Bist du verliebt?"
Ihr stockte kurz der Atem. "Ich? Was? Nein!"
"In mich", sagte Max. "Ich wollte wissen, ob du in mich verliebt bist."
"Die Frage kannst du nicht ernst meinen", sagte Fiona und winkte ab. "Das weißt du doch."
"Nein", seufzte er. "Ich weiß gar nichts mehr."
"Ich liebe dich, Max!"
Er fixierte sie mit seinen grünen Augen. "Wirst du dem Wichser sagen, dass er ein Stück Dreck ist?"
Fiona schnappte kurz nach Luft. "Wie bitte?"
"Dass er dir egal ist und dass dir die ganzen Nachrichten nichts bedeutet haben?"
"Max, ich weiß nicht, ob ..."
"Dass er sich verpissen soll und dass er damit rechnen muss, dass dein Freund ihm den Kopf abhackt und anschließend in tausend Teile zertrümmert, wenn er dich noch ein einziges Mal anspricht?"
"Also, Max ..."
"Wirst du?", brüllte er sie an.
Fiona zuckte zusammen.
Er lachte höhnisch auf. "Alles klar ... wirst du nicht."
Fiona fuchtelte mit den Händen. "Doch, doch, alles, was du willst. Hauptsache, du verzeihst mir. Wenn du willst, dass ich ihm das sage ..."
"Du musst das wollen", unterbrach er sie. "Es geht nicht darum, was ich will. Sonst würde dieser Wichser schließlich morgen von einem LKW überfahren werden."
Kira steckte vorsichtig den Kopf durch die Balkontür und zwinkerte den Beiden zu. "Braucht ihr noch mehr zu trinken?"
"Ja!", riefen Fiona und Max wie aus einem Mund, und zum ersten Mal legte sich ein leises Lächeln über Max‘ Gesicht, das nach ein paar Sekunden aber wieder ausklang wie ein Song.
Fiona suchte Tim am nächsten Tag in seinem Büro über dem Restaurant auf, das in den Wochen zuvor eine Art Wallfahrtsort für sie geworden war. Sie war geradezu süchtig geworden, ihn hier zu besuchen, um mit ihm zu schnacken, zu flirten, diese Blicke auszutauschen, die alles versprachen, und diese Anziehung zu genießen, die sie ganz offensichtlich auf ihn ausübte. Aber damit würde jetzt Schluss sein. Sie musste jeglichen Kontakt zu ihm unterbinden. Am Vortag hatte sie ihm nur kurz bei Whatsapp geschrieben: dass Max ihren Chat gelesen hatte und sie ab sofort nicht mehr schreiben konnte. Anschließend hatte sie den Verlauf gelöscht. Sie war überzeugt, die richtige Entscheidung zu treffen, aber sie fühlte sich verpflichtet, ihm diese Entscheidung auch persönlich mitzuteilen.
Als sie Tims Büro betrat, fiel er ihr um den Hals, als wollte er sie trösten. Sie erwiderte die Umarmung nicht und drückte ihn sanft weg. Er nahm sie scharf ins Visier: "Wie geht es dir? Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen wegen deiner Nachricht."
"Tim", hob sie an, "ich meine es ernst: Wir müssen damit aufhören."
Er kratzte sich am Kopf, die Hand in seinen kurzen braunen Haaren, wie er es immer tat, wenn er aufgeregt war: als wollte er sich ein paar Korkenzieherlocken flechten.
"Glaubst du, das geht so einfach?", fragte er. "Dass wir einfach so aufhören?"
Fiona zuckte mit den Schultern. "Es muss gehen."
"Du könntest doch auch nicht einfach aufhören, an deinem Roman zu schreiben", sagte er.
"Das ist was anderes", sagte sie und schüttelte den Kopf.
"Für mich nicht", sagte er.
"Tim, hör bitte auf!"
Er atmete tief durch. "Fiona, du weißt, was ich für dich empfinde."
Sie nickte.
Er verengte seine großen blauen Augen zu kleinen Schlitzen: "Ich dachte, du fühlst ähnlich für mich."
"Es geht nicht darum, was ich fühle", rief sie. "Ich habe eine Verantwortung gegenüber meinem Freund."
"Nicht so laut", zischte Tim und schloss hastig die Bürotür. Er drehte sich zu ihr und griff nach ihrer Hand: "Fiona, du stehst ja völlig neben dir."
Tatsächlich schossen ihr die Tränen in die Augen. "Es tut mir so leid, Tim."
Sie stellte sich zurück hinter den Schreibtisch, als wollte sie mit dem Wahren des Abstands auf der Stelle anfangen.
"Ich glaube nicht, dass du die richtige Entscheidung triffst", sagte er und versuchte dabei so abgebrüht wie möglich zu klingen.
"Richtig oder falsch", sagte sie und zuckte mit den Schultern: "Es ist die einzige Entscheidung!"
Mit hochgezogener Braue sah er sie an. Ein prüfender Blick, dem sie wie so oft kaum standhielt. Dieser Kerl löste immer noch einen Rausch in ihr aus, ein Zittern und Beben und Blubbern, wie sie es noch nie erlebt hatte. Aber hier ging es um mehr als um Tim und Fiona. Genauer gesagt ging es weder um Tim noch Fiona, sondern nur um Max. Fiona fühlte sich verpflichtet, ihre Beziehung zu retten, seine Tränen wegzulecken, seine Traurigkeit aufzuessen, ihm dieses Gefühl der Machtlosigkeit zu nehmen, an dem sie die alleinige Schuld trug – und dieses Gefühl zu entfernen wie ein bösartiges Geschwür.
Und zuallererst würde sie Tim dafür aus ihrem Alltag entfernen. Auch wenn sie wusste, dass die unmittelbare Nähe im Restaurant in dieser Hinsicht natürlich kontraproduktiv war. Aber irgendwie würde es funktionieren müssen, sonst bliebe ihr bloß die Kündigung. Tim und sie waren seit Wochen nur Sekunden davon entfernt, alles zu vergessen und über einander herzufallen wie Verdurstende über eine Wasserstelle. Dieses beinahe beängstigende Verlangen galt es nun zu verdrängen. Besser noch: auszulöschen.
"Wenn du meinst", versuchte Tim einen zickigen Tonfall, "dann akzeptiere ich das so."
"Ja."
Plötzlich war es ganz still im Büro. Auch die Geräusche aus der Küche im Erdgeschoss schienen verstummt zu sein. Tim begann, auf seinen Computer zu schauen und ein bisschen auf der Tastatur herum zu tippen, bevor er noch einmal zu ihr herüber schaute. Sie stand bereits in der Tür, aber irgendetwas in ihr sträubte sich dagegen zu gehen. Sie konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden.
"Ich muss hier mal weitermachen", sagte Tim und klang jetzt irgendwie müde. "Ist sonst noch irgendwas?"
Fiona bewegte den Kopf wie in Zeitlupe hin und her.
"Okay", sagte Tim. "Mach’s gut, Fiona."
Er setzte seine Bürobrille wieder auf, mit der er so sexy aussah, dass in ihrem Kopf jedes Mal ein besonders schmutziger Film ablief. Mit starrem Blick auf den Monitor hackte er nun hart und mit hoher Geschwindigkeit auf der Tastatur herum.
Fiona brauchte noch ein paar Sekunden. Sie wollte nicht weg. Sie wollte ihn weiter anschauen, ihm den ganzen Tag einfach nur zusehen, was er machte und wie er es machte, sie wollte alles über diesen Mann wissen, jede verdammte Kleinigkeit.
Aber es ging hier nicht darum, was sie wollte. Es ging um Max, und Tim würde schon klarkommen.
Ich bin ein Arschloch, dachte Fiona. Ich habe mich gefälligst den Konsequenzen zu stellen. Den Konsequenzen der Katastrophe, die ich angerichtet hatte.
Es vergingen weitere Sekunden, in denen Fiona ihn einfach nur anstarrte wie eine irre Stalkerin. Sie starrte auf seinen Mund, den sie schon so lange küssen wollte, seine vollen Lippen und die winzige Zahnlücke vorne links neben seinem Schneidezahn. Sie starrte auf seine breiten Schultern, seine trainierten Oberarme, und sie malte sich aus, wie sein Bauch wohl aussehen würde. Und wie es sich anfühlen würde, wenn er sie mit seinen großen Händen packen und auf seinen Schoß setzen würde. Das hatte sie sich schon so oft vorgestellt. Sie starrte auf seine Haut, die immer aussah, als würde er gerade aus der Sonne kommen: ein natürliches Braun, kein Sonnenbank Flavour.
Er bemerkte ihre Blicke, ließ sich aber nichts anmerken. Schließlich riss sie sich zusammen. Sie kniff die Augen auf und zu, als würde sie aus einer Trance erwachen. Es war Zeit zu gehen.
Fiona musste kurz schlucken.
"Mach’s gut, Tim."
"Wie du meinst", sagte er.
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