Menschen sind bereit, alles zu tun, um der Langeweile zu entkommen. Der Beweis: In einem Experiment von 2014 sollten Probanden 15 Minuten in einem leeren Raum warten und nichts tun. Auf dem Tisch stand lediglich ein Gerät, mit dem man den Probanden zuvor schmerzhafte Elektroschocks verpasst hatte. Und was passierte? 67 Prozent der Männer und 25 Prozent der Frauen verabreichten sich in der Wartezeit mindestens einen Elektroschock. (Ein Mann brachte es sogar auf 192!) Das Absurde: Zuvor hätten die Probanden Geld bezahlt, um keine weiteren Schocks zu bekommen.
Das Ergebnis schockiert mich erst ein bisschen, dann fällt mir wieder ein, wie oft ich schon innerhalb von 15 Minuten Instagram gecheckt habe, obwohl ich wusste, dass es nichts Neues gab. Halten wir Menschen heutzutage einfach keine Langeweile mehr aus? Bin ich so schwach?
Ich will Antworten und wage deshalb ein Experiment. Aber nicht für mickrige 15 Minuten, sondern gleich für einen ganzen Tag: Zwölf Stunden will ich nichts tun. Und mit nichts meine ich wirklich nichts. Nicht lesen, nicht kochen, nicht aus dem Fenster gucken, nicht durch die Wohnung laufen. Keine Musik, kein Smartphone, kein Fernseher – nur ein Fitnessarmband, das mir die Zeit anzeigt, ein Kugelschreiber und ein Schreibblock.
Als ich am Vorabend des Selbstversuchs ins Bett gehe, stelle ich keinen Wecker. Ich will bei meinem Experiment ja nicht klischeehaft vor Langeweile einschlafen. Am nächsten Tag beginnt mein Drama in sechs Akten.
1. Akt: Aufregung
Um halb zehn morgens lasse ich mich aufs Sofa fallen – genau so, wie ich eine Minute zuvor aufgestanden bin. Meine übliche Morgenroutine (duschen, Haare kämmen, umziehen) kann ich vergessen. Nichts tun ist kein Zuckerschlecken. Aber es bedarf einer guten Vorbereitung: den gelben Sack am Abend vorher runterbringen, Fertiggerichte einkaufen, eine Uhr suchen, Zettel und Stift bereit legen, für genug Trinkwasser am Platz der Wahl sorgen, Heizung aufdrehen. Außer für die Nahrungsaufnahme und den Toilettengang werde ich für die nächsten zwölf Stunden nicht mehr aufstehen.
Was ich mir von dieser selbstgewählten Hölle verspreche? Die ultimative Idee. Ich will die ganze Kreativität aus meinen Gehirn quetschen, die da gefühlt seit Jahren feststeckt. Mir ist trotzdem ein bisschen mulmig. Die vollkommende Langeweile stelle ich mir zermürbend vor. Was, wenn ich durchdrehe? Mein Mann ist im Urlaub, ich bin ganz alleine in der Wohnung.
Expertenrat werde ich mir wenige Tage nach meinem Experiment holen. Denn: Ich habe Fragen, viele Fragen. "Das Gefühl der Sinnlosigkeit ist schwer zu ertragen", wird mir Silke Ohlmeier am Telefon sagen. Sie promoviert am Institut für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft der Universität zu Köln zum Thema Langeweile. "Wir behandeln Langeweile in unserer Gesellschaft als Tabu. Wir leben in einem Überfluss- und Entertainment-Zeitalter – wenn wir wollen, könnten wir alles machen. Wenn wir uns trotzdem langweilen, nehmen wir das als Versagen wahr."
2. Akt: Selbstgeisselung
Das Tabu der Langeweile, von dem Silke Ohlmeier sprechen wird, spüre ich schon in den ersten Minuten. Draußen vor dem Fenster höre ich die Kinder der benachbarten Grundschule auf dem Schulhof spielen. Menschen unter zwölf Jahren scheinen nur zwei Dinge zu können: schreien und rennen. Obwohl ich sie so laut wahrnehme, fühle ich mich von ihnen vollkommen abgeschnitten. Von der ganzen Welt eigentlich. Draußen leben alle ihr Leben – und ich tue gar nichts. Und das vollkommen freiwillig. Es fühlt sich nicht richtig an.
"Ach, ich muss den Pfand noch wegbringen", denke ich. Aktivitäten, die ich seit Tagen vor mir herschiebe, werden plötzlich attraktiv. Mir fallen lauter Dinge ein, die ich noch erledigen wollte – und jetzt am liebsten tun würde: Mails beantworten, Blumen gießen, Geld überweisen, beim Arzt anrufen ... Ich schreibe mir Stichworte auf meinen Zettel, damit ich es nicht wieder vergesse.
Schon eine halbe Stunde nach Start des Experimentes fängt mein Körper an zu rebellieren. Meine Füße wippen, ich bekomme einen Ohrwurm aus der Hölle. "Wenn jetzt Sommer wär ... wenn jetzt So-oommer wär ..." Um mein Nichtstun noch langweiliger zu machen, beschließe ich, mich hinzulegen und die Augen zu schließen. Keine optischen Reize mehr. Draußen schneidet jemand offensichtlich eine Hecke mit einer Kettensäge. Gerne würde ich nachschauen, ob ich Recht habe. Denke ich noch nach – oder schlafe ich schon ein? Ich verfalle in einen seltsamen Dämmerzustand, sehe bunte Farben vor meinem inneren Auge. Ich höre, wie die Nachbarn das Wasser anmachen. Der Kühlschrank macht "Pling". Bin ich noch wach?
NEEEEEEIIIN!!!! Es ist 12.43, das heißt, ich bin vor zwei Stunden eingeschlafen. Ich fühle mich wie eine Versagerin. Beim Nichtstun gescheitert. Ich bin von mir selbst enttäuscht, und der nervige Ohrwurm von vor meinem frühzeitigen Mittagsschläfchen ist auch noch da. Ich setze mich auf, damit mir das nicht noch einmal passiert. Um kurz vor eins werde ich hungrig. Ich schaue der Tiefkühlpizza auf meinem Teller beim Abkühlen zu. Was anderes bleibt mir nicht übrig.
"Es ist wichtig zu verstehen, dass es nicht nur 'Langeweile' und 'keine Langeweile' gibt", wird Silke Ohlmeier mir in unserem Telefonat sagen. "Ich sehe Langeweile als Spektrum. Es gibt ein bisschen Langeweile, viel Langeweile oder existenzielle Langeweile. Wenn wir zum Bespiel als Ablenkung durch Instagram scrollen, haben wir immer noch Langeweile – wir merken sie nur weniger. Aber wenn wir jedes Mal, wenn wir nichts zu tun haben, unser Handy rausholen, senken wir die Langeweile-Schwelle. Man kann dann immer weniger aushalten, nichts zu tun, oder braucht immer mehr Entertainment." Ich spüre den Drang nach Unterhaltung wie nie zuvor. Bin ich süchtig?
3. Akt: Flüchtiger Optimismus
Nach dem Mittagessen steigt meine Motivation: Ich will die ultimative Langeweile finden! Also starre ich für die nächste Stunde auf meinen Kugelschreiber, den ich vor mir aufs Sofa gelegt habe. Gar nicht so einfach. Nach ein paar Minuten fängt mein Gesicht an zu jucken, meine Augen tränen. Und ich bekomme Halluzinationen. Der Kugelschreiber beginnt zu blinken – eine Funktion, die er definitiv nicht besitzt. So langsam kann ich die masochistischen Studienteilnehmer verstehen. Um 14.05 Uhr schlafe ich fast ein – und mit mir meine Füße. Ich habe gerade einmal viereinhalb Stunden geschafft. Das ist nicht mal die Hälfte ... Wo bleiben meine tollen Ideen?
Silke Ohlmeier überraschen meine Ergebnisse nicht. "Es gibt viele Philosophen, die behaupten, Langweile würde die Kreativität fördern", wird sie mir sagen. "Ich glaube das nicht. Sie haben das vielleicht auch selbst in ihrem Versuch gemerkt: Langweile macht müde, lethargisch und passiv. Je länger wir uns in diesem Stadium bewegen, desto schwerer fällt es uns, uns überhaupt wieder aufzuraffen, irgendetwas zu tun." Sie glaubt nicht, dass wir uns heutzutage mehr langweilen sollten. Stattdessen brauchten wir mehr Entspannung.
4. Akt: Pure Verzweiflung
Entspannend ist mein Experiment nicht. Es ist sogar ganz schön anstrengend, den Körper und Geist davon abzuhalten, etwas zu tun. "Wenn jetzt Sommer wär ... wenn jetzt So-oommer wär ..." schallt es durch meinen Kopf. Warum tue ich mir das an? Monatelang lag die Idee für diesen Selbstversuch auf meinen Schreibtisch – denn ich hatte Angst. Auf dem Weg zur Arbeit halte ich die halbe Stunde in der U-Bahn kaum ohne mein Smartphone aus, ich höre ständig Podcasts.
"Ich glaube, viele Menschen haben so viel Angst vor dem Nichts tun oder der Langeweile, dass sie ihr ganzes Leben verplanen und kein Platz mehr für Leerläufe lassen", wird Silke Ohlmeier mir sagen. "Man sollte Langeweile nicht verhindern. Sie macht darauf aufmerksam, dass man gerade nicht zufrieden mit der Situation ist."
Ich bin gerade sehr unzufrieden mit der Situation. Die Stunden vergehen einfach nicht. Die tobenden Schulkinder, die mich sonst so nerven, sind mein einziger Anker. Ich sehne mich danach, dass sie wieder Pause haben und zum Spielen nach draußen kommen. Die Sonne wirft einen sich bewegenden Schatten ins Wohnzimmer. Spannend! Aber ist das Beobachten nicht etwas tun? KONZENTRIERE DICH, VERDAMMT! Ich suche mir einen neuen Fixpunkt zum Anstarren: den Aufdruck auf der zum Fernsehschrank umgebauten Palette.
15 Uhr. AHHHHH! SCHON WIEDER EINGESCHLAFEN! Einmal kurz den Kopf angelehnt und die brennenden Augen entspannt – schon war ich weg. DAS DARF NICHT NOCHMAL PASSIEREN! Starren funktioniert nicht. Ich muss meinen Blick schweifen lassen, vielleicht können dann auch die Gedanken schweifen. Plötzlich klingelt es an der Tür. Ich geh nicht hin. Fühlt sich irgendwie verboten an. Mein Blick fällt unter den Couchtisch, auf den Stapel mit Büchern, die ich unbedingt lesen wollte. Stattdessen hänge ich jeden Abend vor Netflix – und der Stapel wird immer größer. Was stimmt mit mir nicht?! Ich könnte den ganzen Tag lesen und tue es nicht! Gerade würde ich meine linke Niere verkaufen, um etwas lesen zu dürfen! Das letzte Mal Löcher in die Luft gestarrt habe ich mit 13, als ich mit Liebeskummer und runtergelassenen Rollos in meinem dunklen Kinderzimmer lag.
"Man kann davon ausgehen, dass es kurze, situative Langeweile schon immer gegeben hat", wird mich Silke Ohlmeier aufklären. "Die existenzielle Langeweile, das Gelangweiltsein vom Leben scheint aber ein neues Phänomen zu sein. Das hängt damit zusammen, dass wir heute mehr Freizeit haben als je zuvor und wir uns mehr mit uns selbst beschäftigen. Wir haben mehr Zeit, Langeweile zu bemerken, und sie ist zu einer größeren Beeinträchtigung geworden, seitdem es die Idee von Selbstverwirklichung gibt." Stürze ich mich gerade freiwillig in eine existentielle Sinnkrise?
5. Akt: Frieden
Um 16.19 Uhr ist es so still, dass ich meinen eigenen Herzschlag in meinem Ohr höre. Die Kinder sind schon längst nach Hause gegangen. Ich starre an die Wohnzimmerdecke. Es fühlt sich an wie ein ewiges nicht einschlafen können. Wie ein nicht enden wollendes Warten ohne Ziel. Um 18.20 Uhr ist es so dunkel, dass ich eigentlich das Licht anmachen würde. Aber wozu? Im Halbdunkel wirkt die Langeweile gar nicht mehr so bedrohlich. Ich kann mein 13-jähriges Ich verstehen: Regungslos in der Dunkelheit zu liegen, hat etwas Beruhigendes. Ohne den Liebeskummer ist es schon fast schön. Ich beschließe, nicht mehr so streng zu mir zu sein. Aus dem Fenster gucken ist ab jetzt okay.
Als es komplett dunkel ist, mache ich dann doch ein kleines Licht an. Nicht, dass ich nochmal einschlafe. Wie oft sitze ich sonntags mit meinem Mann auf der Couch, binge irgendeine Serie bei Netflix und sage: "Mir ist langweilig"? Jetzt gerade fallen mir 1000 Sachen ein, die ich machen könnte. Meine To-Do-Liste für morgen wird immer länger. Ich fühle mich einsam, so sehr, dass ich mir wünsche, die Nachbarin aus dem ersten Stock würde die drei Pakete, die seit Tagen den Flur versperren, abholen. Obwohl ich so ungeduscht und ungekämmt echt scheiße aussehe.
6. Akt: Endspurt
Noch drei Stunden, das wird hart. Ich habe mir vorgenommen, bis halb zwölf durchzuhalten, damit ich die verschlafenen Stunden wieder reinholen kann. Sollte ich vielleicht mehr trinken, damit ich öfter zur Toilette muss? Als Kind dachte ich immer, die Stunden bis zu Heiligabend wären lang. Aber im Gegensatz zu heute war das damals gar nichts. Dafür fallen mir immer mehr Dinge ein – teilweise welche, an die ich seit Jahren nicht mehr gedacht habe. Meine Augen werden schwer und ich bin froh. Das heißt, ich kann gleich auf jeden Fall super einschlafen – auch ohne Fernseher. Wozu habe ich den überhaupt jemals gebraucht?!
Um 22:40 Uhr gebe ich auf. Ich kann nicht mehr und schlafe ein. Mit einem neuen Ohrwurm: "But I would walk 500 miles / And I would walk 500 more ..." Bei all der Langweile war eines am schlimmsten: die schreckliche Playlist meines Gehirns. Was haben die 14 Stunden in der Hölle also gebracht? Am nächsten Tag war ich so produktiv wie nie: den Riesenstapel Wäsche waschen, die halbverdursteten Pflanzen gießen, die ganze Wohnung putzen. Aktivitäten, die sich sonst oft wie eine Qual anfühlen, werden zum Privileg.