Die Schuldfrage "Meine Mutter hat meinen Vater verlassen. Ich will sie dafür hassen. Aber ich kann nicht."

Markus lag nach der Trennung seiner Eltern nächtelang wach vor Wut (Symbolbild)
Markus lag nach der Trennung seiner Eltern nächtelang wach vor Wut (Symbolbild)
© Getty Images/iStockphoto
Am Anfang ist Markus einfach nur wütend, weil seine Mutter seinen Vater verlassen hat. Bis sie ihm erzählt, dass sie depressiv ist. Plötzlich stellt sich die Frage nach ihrer Verantwortung nicht mehr. Oder doch?

Markus gehört zu meinen besten Freunden, seit ich denken kann. Also noch nicht so lange, würde er an dieser Stelle normalerweise sagen und dumm grinsen. Aber seit ein paar Wochen ist bei ihm nichts mehr normal. Ich habe ihn schon in allen Gemütszuständen erlebt: ob stumm vor Kummer, als es mit seiner ersten Freundin Lara in die Brüche ging – oder verrückt vor Glück, als Michael Ballack Deutschland ins WM-Finale 2002 schoss. Nur so verzweifelt wie in diesen Tagen habe ich ihn noch nie gesehen. Schuld daran trägt seine Mutter. Sie hat seinen Vater verlassen, nach 27 Jahren Ehe.

Am Anfang war Markus wütend. Seine Mutter erzählte es ihm vor ein paar Wochen, an seinem 33. Geburtstag. Er war zu Besuch im alten Elternhaus, wo er seine ganze Kindheit und Jugend verbracht hat. Als er mit 20 auszog, wusste er, dass er immer wieder dorthin zurückkehren würde. Und jetzt sagte seine Mutter plötzlich: "Ich ziehe aus."

Markus nannte seine Mutter eine Egoistin

Markus nannte sie eine Egoistin. "Papa ist 70 Jahre alt", sagte er. "Er braucht dich." Seine Mutter sagte nichts. Sie wirkte nicht erleichtert, sondern traurig. Markus brüllte sie an: Sie denke nur an sich. Sie sei feige. Ob sie sich nicht schäme. Er fragte nicht einmal nach dem Warum. Er ging einfach, noch vor dem Essen, weil er es verlogen gefunden hätte, sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen mit seinen Eltern, die sich doch sowieso trennen würden. Er sagt, er habe zum ersten Mal in seinem Leben versucht, die Küchentür so fest zuzuschlagen, wie er kann.

Anschließend lag Markus nächtelang wach vor Wut. Tagsüber versuchte seine Mutter ihn zu erreichen. Er drückte ihre Anrufe weg. Sie schrieb, dass sie es ihm erklären wolle. Er antwortete nicht. Er wusste, dass er ihre Erklärung nicht ertragen würde. Aber wenn du sie nicht anhörst, sagte ich, bist du mindestens so feige wie deine Mutter. Er sagte, dass er auf meine Meinung verzichten könne. Einige Tage später traf er sich mit seiner Mutter im Café. Er wolle keinen Fuß mehr in sein Elternhaus setzen, sagte er.

"Ich bin depressiv", sagte seine Mutter. "Seit drei Jahren schon." Es gebe Wochen, in denen sie sich kaum aus dem Haus traue. Sie fühle sich gefangen, im Schlafzimmer, in ihrer Ehe, in ihrem Leben. Schon mehrmals habe sie auf der Rheinkniebrücke gestanden und überlegt, sich einfach in die Tiefe zu stürzen. Sie habe es nur Papa zuliebe nie getan. Aber jetzt müsse sie ihr eigenes Leben retten. Markus habe daraufhin nichts mehr sagen können. Er habe nur noch geheult. Ich kenne Markus, seit ich denken kann. Ich habe ihn noch nie heulen sehen.

Es sei doch bescheuert, sagte Markus bei einem unserer zahlreichen gemeinsamen Biere der letzten Tage: "Meine Mutter hat meinen Vater verlassen. Ich will sie dafür hassen. Aber ich kann nicht." Stattdessen würde er sich fragen, wer von beiden wie viel Schuld an der Trennung trägt. "Du bist ihr Sohn", sagte ich. "Es ist nicht deine Aufgabe, diese Frage zu stellen." Außerdem sei Liebe nicht immer für immer, das müsse er mit seinen 33 Jahren doch langsam wissen: "Streng genommen geht dich die Beziehung deiner Eltern schon lange nichts mehr an." Markus zuckte mit den Schultern. Vielleicht sei er selbst ja der Egoistische, weil er seiner Mutter ihre eigene Entscheidung übelnehme. "Es ist schließlich ihr Leben", sagte er. "Aber es ist auch das Leben meines Vaters."

Ob Mama wirklich keine Verantwortung trage, fragte er, nur weil sie depressiv sei. Immerhin handele es sich um eine psychische Erkrankung, die Menschen auf eine Weise handeln lassen, auf die sie sonst nicht handeln würden. "Es gibt darauf keine klare Antwort", versuchte ich eine klare Antwort. "Depression ist kein Freibrief für rücksichtsloses Verhalten, aber sie ist bei der Bewertung des Verhaltens zu berücksichtigen." An diesem Abend fanden wir keine weiteren Antworten. Zumindest keine zufriedenstellenden.

Die Flammen im brennenden Hochhaus

Der Schriftsteller David Foster Wallace sagte: Der depressiven Person gehe es wie einem Menschen, der im Obergeschoss eines brennenden Hochhauses festsitze. Ihre Angst davor, mit vollem Bewusstsein in die Tiefe zu springen, unterscheide sich nicht von dem Gefühl, das jemand in einem intakten Hochhaus beim bloßen Gedanken an den Absturz entwickelt. Die Furcht bleibe demzufolge konstant – die Variable sei der Schmerz der näherkommenden Flammen: "Wenn die Flammen nah genug kommen, wird der tödliche Sturz die geringfügig kleinere von zwei Schreckensvorstellungen." Es gehe nicht um die Sehnsucht nach dem Sturz, es gehe um den Schrecken der Flammen. Niemand unten auf dem Fußweg könne verstehen, warum jemand springt.

Auch wenn Wallace hier die Sicht des psychisch Kranken erklären möchte, beschreibt er gleichzeitig die Hilflosigkeit, die Angehörige von Depressionskranken nicht weniger leiden lassen als die Depressionskranken selbst. Ich habe Markus ein paar Tage später von diesem Modell erzählt. Er nickte wissend, als müsse ich ihm nichts mehr erklären: "Ich habe nur ein bisschen Zeit gebraucht." Er schäme sich nicht für seine erste Reaktion, sagte er. Aber er habe eingesehen, dass er kein Recht habe, die Schuldfrage zu stellen. Ich kenne Markus, seit ich denken kann. Ich habe ihn noch nie so erleichtert gesehen wie mit der Antwort, die er für sich gefunden hatte.

"Ich bin nicht mehr wütend", sagte er. Stattdessen wolle er für seine Mutter da sein, wenn sie ihn braucht. Und vor allem für seinen Vater.

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