Am 20. April 1999, also vor genau 20 Jahren, eröffneten zwei junge Männer in ihrer Heimatstadt Littleton im US-Bundesstaat Colorado das Feuer und töteten innerhalb etwa einer Stunde zwölf Schüler und einen Lehrer ihrer Highschool. Schließlich nahmen sich selbst das Leben.
Und während wir inzwischen, nach zahlreichen weiteren, ähnlichen Taten, beinahe abgestumpft sind, traf die Nachricht des Massakers an der Columbine High School damals die ganze Welt ins Herz. Zwar war es nicht der erste Amoklauf, der in den USA passierte, jedoch der erste, der ein solches mediales Interesse weckte. Wie konnte das passieren? Wieso entschieden sich der 18-jährige Eric Harris und der 17-jährige Dylan Klebold dazu, Amok zu laufen und so viele Menschen wie möglich umzubringen? Eine genaue Erklärung für die Tat hat es nie gegeben. Das FBI kam irgendwann zu dem Schluss, dass Klebold und Harris depressiv und psychopathisch waren. Doch auch eine Rache für erlebtes Mobbing und politische Gründe für den Amoklauf waren immer wieder im Gespräch.
Eins aber ist klar: Auch in der Entstehung des Columbine-Massakers spielte das Internet eine wichtige Rolle. Eric Harris führte über Jahre einen Blog, in dem er weitestgehend unbehelligt seine Wut und Aggression in die Welt aussandte und sich damit immer weiter selber aufputschte. Eine, die das besonders gut verstehen dürfte, ist Lindsay Souvannarath. Denn die junge Frau sitzt lebenslang im Gefängnis, nachdem sie gemeinsam mit ihrem Freund, den sie im Internet kennengelernt hatte, plante, am 14. Februar 2015 im Food Court eines Einkaufszentrums in Kanada Amok zu laufen.
Anfang dieses Jahres sprach sie in einem kanadischen Podcast zum ersten Mal öffentlich über ihre Beweggründe und den Weg, der sie aus einem behüteten Haushalt in Illinois in ein Flugzeug nach Kanada führte, im Gepäck nur ein One-Way-Ticket und einen mörderischen Plan. Und während sie durch all ihre Erzählungen hinweg abgeklärt und ruhig wirkt und beinahe gleichgültig von ihrem Plan erzählt, gemeinsam mit James Gamble zahlreiche Menschen umzubringen und sich anschließend selbst das Leben zu nehmen, kann man als Hörer nicht umhin, ab und zu auf Pause zu drücken und sich wieder zu sammeln. Denn ihre Ideologien, Fantasien und Pläne sind so absurd wie sie grausam sind.

Im Internet fand Lindsay eine gleichgesinnte Community
"Es gibt nichts in meiner Familiengeschichte, was erklären würde, wieso ich den Weg gegangen bin, den ich gegangen bin", erzählt Lindsay Moderator Jordan Bonaparte, "kein Trauma, kein Missbrauch, nichts." Sie habe sich bereits in früher Kindheit für Computer interessiert. Ihr Vater, ein Programmierer, habe ihr das Tippen beigebracht, bevor sie per Hand schreiben lernte.
Vielleicht einer der Gründe, weshalb sie als Teenager begann, sich ihren Freundeskreis im Internet aufzubauen. Besonders die Online-Community Tumblr habe es ihr damals angetan. Im Interview mit Bonaparte bezeichnet sich die junge Frau als "sehr effiziente" Person, die wenig Geduld für Smalltalk habe. Im Internet habe sie schnell Menschen gefunden, die ihre Interessen teilten. Interessen wie Fantasy und Illustration, aber auch nationalsozialistische Ideologie, Horror und das Columbine-Massaker.
Ihr Interesse an der Nazi-Ideologie sei im Grunde durch einen Zufall geweckt worden, sagt Lindsay. Sie sei auf ein Bild gestoßen, das ihr gefallen habe. "Ich kommentierte es und begann, mich ein wenig mit dem Künstler zu unterhalten. Es stellte sich heraus, dass dieser Künstler Nationalsozialist ist. Durch ihn begann ich, mit anderen Nationalsozialisten zu networken und stellte fest, dass ich viel mit ihnen gemeinsam hatte. Die Chancen, dass das passieren würde, waren sehr gering – aber es passierte." Zu diesem Zeitpunkt sei sie etwa 16 oder 17 Jahre alt gewesen.
Wenn Menschen fürchterliche Dinge tun, tendieren wir dazu, in ihrer Vergangenheit nach Indikatoren zu suchen, die ihr Verhalten erklären. Vielleicht, weil es beruhigend ist, zu denken, dass Menschen sich nicht einfach eines Tages dazu entscheiden, zum Massenmörder zu werden. Wir wollen nicht überrascht werden, wollen sagen können, dass so etwas beinahe erwartbar war. Einer der Gründe, weshalb Lindsay Souvannarath die Medien so sehr faszinierte wie sie es tat und immer noch tut, ist der, dass sie in einer unfassbaren, ja furchterregenden Abgeklärtheit und Distanz über ihre geplante Tat, ihre Ideologie und auch ihre Vergangenheit sprechen kann. "Als ich klein war, bin ich manchmal körperlich aggressiv geworden, wenn jemand etwas tat, was mir nicht gefällt", erzählt sie Bonaparte, "aber nach der siebten Klasse oder so hörte das auf."
Zu dem Zeitpunkt, an dem sie James Gamble kennenlernte, mit dem sie schließlich eine Fernbeziehung über das Internet beginnen und ultimativ einen Amoklauf planen würde, hatte Lindsay erfolgreich ein Studium in Englisch und kreativem Schreiben absolviert. Mit wenig Ambitionen, einen Karriereplan zu entwerfen, einer vagen Idee, in Asien Englisch-Unterricht für Kinder zu geben und einem unfertigen Roman namens "Wenn ein Schädel erröten könnte", wohnte sie im Haus ihrer Eltern und verlor sich immer mehr in den Tiefen des Internets. Sie habe meist bis in die frühen Morgenstunden vor ihrem Computer gesessen und bis nachmittags geschlafen, erzählt sie: "Es war eine seltsame Art zu leben."
Besonders der Amoklauf in Columbine weckte Lindsays Interesse
Gamble lernte sie durch eine Community kennen, die sich "Columbiners" nannte. Denn obwohl sie erst sieben Jahre alt war, als Eric Harris und Dylan Klebold das Feuer auf ihre Mitschüler eröffneten, sollte sie viele Jahre später anfangen, sich mit den Tätern und ihrer Tat zu identifizieren: "Ich schrieb an meinem Roman über den Jungen, der sich in den Tod verliebt und fand, dass die Geschichte einen Amoklauf an einer Schule bräuchte. Also begann ich zu recherchieren. Und je mehr ich über Columbine las, desto mehr identifizierte ich mich mit den Tätern und den Dingen, an die sie glaubten." Besonders Dinge, die Eric Harris in sein Tagebuch schrieb, hätten sie interessiert: "Im Grunde sehe ich mich selbst als eine weiter entwickelte und etwas intellektuellere Version von Eric Harris."
Während ihr klares Bekennen zur Nazi-Ideologie bereits schockierend ist, bleibt das Gespräch darüber mit Bonaparte oberflächlich. Ja, sie identifiziere sich mit dem Nationalsozialismus, ja, sie sei damit im College ein paar Mal angeeckt, viel mehr erzählt Lindsay Souvannarath nicht, weshalb all das vor allem wie eine abstrakte Wolke über ihren Erzählungen schwebt. Doch wenn sie beginnt, konkret von ihrer Faszination mit Amokläufen im Allgemeinen und Eric Harris und Dylan Klebold im Spezifischen zu reden, schnürt es dem Hörer unumgänglich die Kehle zu. Immer wieder baut Bonaparte kurze Pausen in seinen Podcast ein, erlaubt es dem Publikum, die eigenen Gedanken zu sammeln – das ist auch notwendig.
Sie habe begonnen, Texte über Columbine zu schreiben und sie gemeinsam mit Bildern und Memes unter dem #columbine zu teilen, sagt Lindsay. Darüber habe sie andere Menschen kennengelernt, die ihre Ansichten teilten: "Was die Leute wissen sollten", sagt sie so abgeklärt und kalt, dass es kaum zu glauben ist, "ist, dass ein öffentlicher Amoklauf wie dieser, vor allem ein Angriff auf die Öffentlichkeit an sich ist. Alles andere ist zweitrangig. Ein Angriff auf die normalen Menschen. Kein Angriff auf persönliche Feinde, sondern auf die Menschen, die ihnen blind folgen. Selbstgefällige Menschen. Es geht darum, die Welt von Menschen zu reinigen, die ihr nicht viel beizutragen haben." Die Mentalität eines Amokläufers zu haben, würde bedeuten, dass man Opfer einer solchen Tat nicht länger als Individuen sehe, sondern als Teil eines großen Ganzen. Die Welt sei wie ein Schachbrett und die meisten Menschen seien wie Bauern: "Was haben sie beizutragen, bis auf gleichermaßen unbeeindruckende Kinder?" Und wieder ist ihre Stimme so klar, so abgeklärt, so ruhig, als würde sie von ihrem letzten Sommerurlaub erzählen und nicht von ihrer mitleidlosen Überzeugung, Herr über Leben und Tod sein zu dürfen. In diesem Moment ist selbst Moderator Bonaparte, der sich intensiv auf dieses Gespräch vorbereitet hat, kurz sprachlos. Woher kommt diese kaltblütige Grausamkeit?
Als sie James Gamble kennenlernte, eskalierten die Dinge unfassbar schnell
Eines Tages habe der 19-jährige Gamble auf einen ihrer Posts reagiert. Die beiden begannen, sich gegenseitig zu folgen, schrieben einander Nachrichten, wurden Facebook-Freunde. Zunächst seien sie einfach nur Freunde gewesen, erzählt Lindsay. Irgendwann hätten sie geplant, sich zu treffen – genauer: Sie wollten sich treffen, um gemeinsam einen Massenmord zu begehen. Dass sie Gefühle für ihn habe, habe sie erst wesentlich später gemerkt: "Erst dachte ich, dass was ich da fühle, nur Adrenalin sei, weil wir gemeinsam einen Mord planten." Doch irgendwann sei das umgeschlagen. Die beiden begannen, sich explizite, sexuelle Nachrichten zu schreiben, standen dauerhaft in Kontakt. Auch diese Nachrichten sollten später vor Gericht gegen Lindsay genutzt werden.
"Eine der ersten Sachen, über die wir uns unterhielten, war die Musik, die wir mochten. Ich war die Person, die ihn auf nationalsozialistischen Black Metal aufmerksam machte. Er hatte noch nie davon gehört, war aber begeistert." Auch in Sachen Mode hätten die beiden ähnliche Interessen gehabt: "Ich würde nicht sagen, dass wir wie Goths rumliefen, aber wir trugen gerne Sachen, die anderen Leuten Angst machen. Im Grunde kleideten wir uns wie Amokläufer." Es sei auch über die Kleidung gewesen, dass sie auf die Idee kamen, eine tatsächliche Attacke zu planen: "Ich fragte ihn, wo er normalerweise abhängen würde, damit ich auch vorbeikommen könnte und die Leute denken würden 'Oh Gott, jetzt sind sie schon zu zweit!' Und irgendwie kam er auf die Idee, tatsächlich eine Tat zu verüben, während wir diese Kleidung trugen und ich fand die Idee gut. Zunächst wollten wir Leuten nur Angst machen, aber irgendwie wurde daraus mehr."
Dieses "mehr" war ein Plan, der nicht nur einen Massenmord, sondern auch den gemeinsamen Suizid von James Gamble und Lindsay Souvannarath beinhalten sollte. Es sei ein Gefühl von Schicksal gewesen, beschreibt Lindsay, als die beiden festlegten, dass sie zusammen sterben sollten – und zum ersten Mal klingt sie beinahe emotional.
Die Wahl des richtigen Ortes sei ihnen schwer gefallen. James habe ein Krankenhaus vorgeschlagen ("Das kam mir irgendwie sinnlos vor.") und auch eine Grundschule oder Bücherei in die Runde geworfen: "Aber ich dachte, das würde die falsche Nachricht senden. Außerdem wollte ich Columbine nicht zu sehr kopieren." Schließlich einigten sie sich auf ein Einkaufszentrum: "Es war ein Symbol für westliche Dekadenz und die moderne Gesellschaft." Und obwohl Jordan Bonaparte nahtlos mit der nächsten Frage weitermacht, kann man nicht umhin, ein leichtes Zittern in seiner Stimme wahrzunehmen.
Ein anonymer Tipp sollte ihnen das Handwerk legen – weil sie im Internet geprahlt hatten
Die beiden hatten bereits fertig geplante Outfits für die Tat und eine Playlist, die sie vor der Tat hören und auf ihren Blogs posten wollten, doch zu dem Amoklauf kam es glücklicherweise nie. Sie hatten das Internet stets für ihre Zwecke genutzt, hatten sich radikalisiert und vernetzt, doch nun sollte ihre Social-Media-Aktivität schließlich dazu führen, dass ihre Pläne vereitelt wurden. "Ich hatte ein Bild gebastelt", sagt Lindsay, "es sah ein bisschen aus wie ein Filmposter. Darauf zu sehen waren James und ich in schwarz-weiß und Blutspritzer […] und darunter stand 'Am Valentinstag wird es passieren.'" Es sind Postings wie diese, die dazu führen sollten, dass Lindsay und James sich nie im echten Leben trafen. Denn als Lindsay am Flughafen in Halifax eintraf und direkt von Beamten in einen Untersuchungsraum gebracht wurde, war ihr Freund bereits tot.
"Meine Probleme fingen an, als ich in Halifax eintraf", erzählt Lindsay mit ruhiger Stimme. Sie habe den Flug über geschlafen, weshalb sie kaum Zeit gehabt habe, ihre Einreisepapiere richtig auszufüllen, oder sich eine zweckmäßige Cover-Geschichte auszudenken. "Der Zollagent wurde misstrauisch, weil ich so gut wie kein Geld dabei hatte, nicht viel Gepäck und ein One Way Ticket. […] Sie durchsuchten meine Sachen und ganz offensichtlich missfielen ihnen einige der Dinge, die ich bei mir hatte. Sie mochten meine Bücher nicht, sie mochten die Mütze mit dem Hakenkreuz nicht und irgendwann kam die Polizei, die mich verhaftete, weil ich angeblich die Zollagenten bedroht hatte." Kurz darauf informierten Polizeibeamte die junge Frau, dass sie von ihren mörderischen Plänen wüssten.
Inzwischen ist bekannt, dass ein anonymer Tipp bei "Crime Stoppers", einem Programm, mit dem anonym Verbrechen gemeldet werden können, dazu führte, dass die kanadische Polizei noch während Lindsay im Flugzeug saß, nicht nur ihren Blog und ihre Facebook-Unterhaltungen mit James gelesen hatte, sondern auch zum Haus von James' Eltern gefahren war, um ihn dort mit den Beweisen zu konfrontieren. Als die Polizei das Haus umzingelt und den 19-jährigen Gamble aufgefordert hatte, sich zu ergeben, nahm er sich mit einem Kopfschuss das Leben. "In meiner Vernehmung sagte ich immer wieder 'Fragen Sie nicht mich, fragen Sie James' und irgendwann kam ein Polizist rein und sagte: 'James ist tot'."
Am 20. April 2018 wurde Lindsay Souvannarath wegen Verabredung zum Mord und Verabredung zu Brandstiftung zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt.
Quelle: "Night Time Podcast"