Ich komme aus dem Supermarkt, rupfe mir die Maske vom Gesicht. "Die könnte ich auch mal wieder waschen", denke ich mir, knülle sie in meine Jackentasche und vergesse den Gedanken gleich wieder. Ich ziehe meine Brille auf – sie ist immer noch beschlagen. Fünf Minuten Fußweg nach Hause, genau eine Zigarettenlänge. Es ist das erste Mal seit zwei Tagen, dass ich die Wohnung verlasse.
Ich warte an der Ampel und denke darüber nach, ob der Satz "Mein Krafttier ist Bernd das Brot" für Twitter reicht. Ich zucke zusammen, als ein Hund weniger als 1,5 Meter neben mir laut bellt. "Andreas, aus!" Der Hund heißt Andreas. Glaube ich. Das Herrchen wirft einen gelangweilten Blick auf mich. Dann noch einen. Dann geht in seinem Gesicht die Sonne auf. "Eyyy! Lange nicht gesehen! Wusste doch, dass du das an der Kasse warst!". Ich brauche einen Moment, um sein breites Lächeln einzuordnen. "Luke! Ja, ewig her." Die Ampel ist noch rot.
"Wie geht’s dir?", fragt mich das Herrchen, das Luke heißt. Das Grinsen fällt ihm spontan aus dem Gesicht, als er das Toilettenpapier aus meiner Einkaufstüte lugen sieht. "Ich hatte keines mehr", gebe ich kleinlaut zurück. Dabei hatte ich noch zwei Rollen. Ich schäme mich.
Die Ampel will nicht umschalten, also wechsle ich gekonnt das Thema: "Und bei dir? Alles gut?" Mit sichtlicher Anstrengung hebt das Herrchen den Blick von MEINEM Klopapier. "Ja, weißt ja, wie es ist. Hab langsam echt die Schnauze voll von dem Mist" "Ja, ich weiß, was du meinst." Gutes Gespräch, denke ich. Die Ampel leuchtet grün.
Wir bleiben stehen. Andreas, der Hund, hat etwas gerochen. "Eyyy, wir sind ja jetzt quasi Nachbarn", stellt das Herrchen fest. "Ja?" "Ja, bin doch vor ‘nem halben Jahr in die Brandstraße gezogen." Das Herrchen schaut mich an, ähnelt dabei sehr Andreas. Ich spiele mit: "Vor einem halben Jahr? Wow. So lange haben wir uns schon nicht gesehen?" "Ja. War ja auch Corona. Weißt ja, wie es ist." Pause. Dann sagt er mehr zu sich selbst als zu mir: "Mies, dass wir uns heute erst sehen. Vor ‘nem Monat hätten wir jetzt noch was essen gehen können. Die tun mir richtig leid. Die Restaurants, meine ich." Mein Einsatz. "Ja, ist richtig schlimm. Auch für die ganzen Veranstalter und Künstler", antworte ich und ernte betroffenes Nicken. Das reicht für’s erste.
Ich könnte schon Zuhause sein, aber Andreas riecht dauernd irgendwas. Andreas ist bestimmt nicht mein Krafttier. "Was machst du am Wochenende?", fragt mich das Herrchen. "Treffe mich mit zwei Freunden, wollen pokern." Falsche Antwort. "Hä? Darf man das noch? Also zu dritt?" Für die Bemerkung bleibt er sogar stehen. Ist aber nicht schlimm – Andreas hat sowieso was gerochen. "Ja, klar. Die beiden wohnen zusammen. Sind dann ja nur zwei Haushalte." Herrchen Luke schüttelt den Kopf. "Da blickt doch keiner mehr durch, oder?" Langsam laufe ich warm. "Ne, ist ja auch überall unterschiedlich." "Ja, eben. Wie soll man das auch verstehen? Kann ja eigentlich nicht sein, oder? – Jetzt schaut er fordernd. "Ne, langsam kann ich das auch nicht mehr nachvollziehen", entgegne ich und lüge.
Die nächste Ampel. "Wir wollten eigentlich über Silvester nach Sankt Peter." Pause. Wieder schaut er mich fordernd an. "Wird wohl nichts, oder?", fragt er. Andreas wedelt mit dem Schwanz, sein Herrchen mit dem Zaunpfahl.
Die Ampel und ich schalten jetzt. "Ne, das dauert noch." Damit ist das Herrchen zufrieden. "Den Sommerurlaub nächstes Jahr können wir auch knicken. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass das mit dem Impfstoff jetzt alles so schnell geht, oder? Wann meinst du, können wir wieder raus?", fragt er weiter. "Das dauert noch", wiederhole ich. Er nickt. "Zwei von zwei", denke ich zufrieden.
Wir biegen in meine Straße ein. "Ist Bernd das Brot überhaupt ein Tier? Weil, es heißt ja Kraft-Tier", denke ich in die Stille hinein. "Wenigstens hat man jetzt für Weihnachten ne’ Ausrede", lacht das Herrchen auf einmal und holt mich in die neue Realität zurück. Für Twitter reicht das nicht, aber ich lache solidarisch.
"Wie findest du Homeoffice?", fragt er und sagt, ohne eine Antwort abzuwarten: "Am Anfang fand ich es ja komisch, vor allem mit den Videokonferenzen und so. Aber es geht ja. Und man kann dabei die Wäsche abhängen." Solidarisches Lachen – die Zweite.
Kurz vor meiner Haustür bleiben wir stehen. Dabei hatte Andreas gar nichts gerochen. "So ein Mist!", ruft das Herrchen. "Ich hab das Klopapier vergessen! Ich geh nochmal schnell. Lass auf jeden Fall bald mal was machen, wenn alles wieder normal ist!" Wütend schaue ich den beiden hinterher. Der hat bestimmt noch Klopapier.
Später am Abend zeigt mir die Corona-Warnapp eine Risikobegegnung an. Ich nicke zustimmend.