Kevins Kinderarzt hat es vorausgesehen. "Das sind die Fälle, von denen man sonst nur in den Zeitungen liest und sich fragt, warum so etwas passieren kann", will er zu Kevins zuständigem Sozialarbeiter dem so genannten "Casemanager" gesagt haben. Der Arzt sollte Recht behalten. Am 10. Oktober wurde der zweijährige Kevin tot im Kühlschrank seines vermeintlichen Vaters, dem drogensüchtigen Bernd K., gefunden. Das Kind wies zahlreiche Knochenbrüche auf. Bernd K., der, wie sich inzwischen herausgestellt hat, gar nicht Kevins leiblicher Vater war, steht unter Verdacht, den Jungen getötet zu haben.
Dass Kevin hätte gerettet werden können, wenn die Behörden die Warnungen aus dem Umfeld des Jungen ernst genommen hätten, ist inzwischen amtlich: Der Bericht mit den Fehlern der Bremer Sozialbehörde, den Justizstaatsrat Ulrich Mäurer (SPD) am Dienstag vorgestellt hat, umfasst 57 Seiten. Darüber hinaus haben sich - wie stern.de aus Justizkreisen erfuhr - eine Reihe von Zeugen gemeldet, die detailliert schildern, wie sie von den Behörden abgebügelt wurden, als sie den Verdacht äußerten, Bernd K. würde Kevin misshandeln.
Kevins Mutter HIV-infiziert
Darunter ist auch Kevins Kinderarzt, der den Jungen im August 2004 das erste Mal sieht. Kevins drogensüchtige Mutter Sandra K. ist HIV-infiziert, macht sich Sorgen, dass sie die tödliche Immunschwäche auf ihren Sohn übertragen hat. Ein Labortest entkräftet den schlimmen Verdacht: Kevin ist nicht HIV-positiv. Bernd K. sei nicht besorgt, sondern "unterschwellig aggressiv" gewesen, erinnert sich der Arzt.
Einen Monat später, im September 2004, kommt das Paar mit Kevin wieder in die Praxis. Der Junge weint unaufhörlich. Sandra K. wirkt besorgt. Der Kinderarzt untersucht den Kleinen und stellt Schwellungen an den Knochen fest. Sofort hat er den Verdacht, dass Kevin misshandelt worden ist. Bernd K. versucht, den Arzt zu beschwichtigen: "Kevin verfängt sich immer in den Gitterstäben seines Bettchen." Der Arzt weist das Kind eigenen Angaben zufolge in die Klinik ein, und zwar mit dem ausdrücklichen Hinweis auf ein "Battered Child Syndrom", also einer Kindesmisshandlung. In der Klinik wird festgestellt, dass die Werte von Kevins Knochenstoffwechsel verändert sind. Die Ursache ist unklar. Solche Auffälligkeiten können neben einer Misshandlung auch organische Ursachen haben.
Klinik kontaktiert behandelnden Arzt nicht
Am 25. Oktober erfährt der Kinderarzt bei einem Telefonat mit der Klinik, dass Kevin schon seit einer Woche wieder bei seinen Eltern lebt. "Warum bei dem klinischen Befund der Knochenbrüche keine Fremdplatzierung erfolgte, war mir schon damals nicht nachvollziehbar", schreibt der Arzt in einem Erinnerungsprotokoll für die Polizei, das stern.de vorliegt. Er verstehe auch nicht, warum die Klinik ihn als "behandelnden und einweisenden Arzt" nicht kontaktiert habe.
Im November sieht der Kinderarzt Kevin wieder. Der Junge wirkt "aufgeweckt und munter". Bernd K. behauptet, der Kleine sei zuvor von den Nachbarn misshandelt worden. Er wolle jedoch keine Anzeige erstatten, um Ärger zu vermeiden. Der Arzt überweist das Kind, das noch immer ein bisschen schwach ist, zur Krankengymnastik. Bernd und Sandra K. nehmen die Termine nicht wahr. Der Arzt informiert laut eigenen Angaben Kevins "Casemanager". "Ich hatte das Gefühl, der nickt immer ganz freundlich, notiert sich alles, aber tut gar nichts", sagt der Kinderarzt gegenüber stern.de. Angaben, die er inzwischen auch gegenüber der Polizei wiederholt hat.
Jugendamt nicht erreichbar
Anfang 2005 sieht der Kinderarzt seinen kleinen Patienten wieder. Kevin ist abgemagert. Wieder, so heißt es im Gedächtnisprotokoll des Arztes, habe er den "Casemanager" verständigt. Inzwischen steht fest, dass für Kevins Knochenbrüche keine Stoffwechselkrankheit verantwortlich ist. Der Kinderarzt lässt sich diesen Befund - so seine Aussage weiter - von der Klinik bestätigen. Die Kollegen hätten ihm versichert, dass diese wichtige Information selbstverständlich auch an das Jugendamt weitergeleitet werde. "Ich selbst kann trotz wiederholter Versuche niemanden im Jugendamt erreichen", notiert der Arzt in seinem Protokoll für die Polizei.
Am 21. November bekommt der Kinderarzt einen Anruf vom Jugendamt. Kevins Mutter ist gestorben. Der Junge lebt vorläufig im Heim. Das Amt will klären, ob der Junge dort bleiben soll. Oder ob Bernd K. ihn zurückhaben darf. "Ich spreche mich deutlich und definitiv gegen die Unterbringung beim Vater aus", notiert der Arzt über die Konferenz. Laut Protokoll weist er die Fallkonferenz ausdrücklich darauf hin, dass kein Zweifel mehr bestünde, dass Kevin misshandelt worden sei und dass Bernd K. als Täter infrage käme. Diese Angaben hat der Kinderarzt bei der Polizei inzwischen wiederholt, wie stern.de aus Justizkreisen erfuhr. Die Fallkonferenz schlägt die Warnung des Kinderarztes in den Wind. Dass Bernd K. einschlägig wegen Körperverletzung vorbestraft ist, will in der Behörde zu dieser Zeit niemand gewusst haben. Bernd K. holt Kevin aus dem Heim ab.
Bernd K. nicht der leibliche Vater
Dabei ist er - wie inzwischen zweifelsfrei feststeht - gar nicht der leibliche Vater des Jungen. Bernd K. war nicht mit Kevins Mutter verheiratet. Allein deshalb hätte er offiziell nicht als Kindesvater gelten dürfen. Es lag auch keine "wirksame Anerkennung der Vaterschaft" vor, wie Justizstaatsrat Mäurer jetzt einräumen musste. Trotzdem hat Kevins Amtsvormund nie den Versuch unternommen, die Vaterschaftsfrage offiziell zu klären. Auf die Frage, warum er dies versäumt hat, gibt die Sozialbehörde - wie auch auf alle anderen Fragen von stern.de keine Antwort. Solche Fragen müssten "durch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und des Untersuchungsausschusses geklärt werden", teilt eine Sprecherin der Redaktion mit.
Ein paar Monate nachdem Bernd K. den Jungen aus dem Heim geholt hat, kommt Kevin im Frühjahr 2006 zur Tagesmutter. Die Frau, die anonym bleiben möchte, bemerkt, dass Kevins Fuß stark angeschwollen ist. Sie ruft - wie sie inzwischen auch bei der Polizei ausgesagt hat - sofort beim Jugendamt an. Sie spricht nacheinander mit zwei Sachbearbeiterinnen. Angeblich bekommt sie zu hören: "Ich weiß nicht, was sie da reden". Zufällig ist die Mutter eines anderen Pfleglings dabei. Die Frau fotografiert Kevins Verletzungen mit ihrem Handy. "Der Fuß stand vom Bein ab, wie eine Banane. Jeder Laie konnte sehen, dass der Knöchel gebrochen war", sagt die Frau, eine gelernte Erzieherin, heute noch gegenüber stern.de.
"Unter keiner Nummer hat sich jemand gemeldet"
An dem fraglichen Vormittag holt die Tagesmutter diese Frau als Zeugin ans Telefon. Der Ton sei freundlicher geworden, erzählen beide. Die Sachbearbeiterin hätte ihnen versprochen, mit Kevins "Casemanager" zu sprechen. Außerdem hätte die Frau ihnen vier Telefonnummern gegeben. "Unter keiner Nummer hat sich jemand gemeldet", erzählen beide Frauen übereinstimmend. "Dann stand Bernd K. vor der Tür. Ich habe wieder im Jugendamt angerufen und gefragt, was ich tun sollte", berichtet die Tagesmutter weiter. "Die Sachbearbeiterin sagte mir, dass sie mit Kevins "Casemanager" gesprochen habe. Ich solle das Kind an Bernd K. herausgeben".
Wenig später, am 20. April 2006, findet im Amt für Soziale Dienste ein Gespräch in Sachen Kevin statt. Kevins "Casemanager", sein Amtsvormund und eine Stadtteilleiterin der Sozialbehörde setzen sich mit Bernd K. zusammen. Die Stadtteilleiterin nimmt Kevin auf den Schoß, wundert sich, dass das Kind nicht fremdelt und sie küsst. Sie bemerkt auch, wie schwach Kevin ist, dass er kaum Muskeln hat. Obwohl zu dieser Zeit laut Zeugenaussagen der Verdacht der Kindesmisshandlung offenbar bereits im Raum steht, sprechen die Helfer Bernd K. offenbar nicht auf das Thema an. Stattdessen raten die Experten Bernd K., er solle sich einer "Trauergruppe" anschließen, um den Tod seiner Lebensgefährtin besser zu verarbeiten. "Wir haben ihm die Pistole auf die Brust gesetzt", sagte die Stadtteilleiterin jetzt dagegen in ihrer Vernehmung bei der Polizei.
Wie stern.de aus Justizkreisen erfuhr, zeigte sich die Sozialarbeiterin zerknirscht. "Ich wollte ihm das Kind eigentlich nicht wieder mitgeben", zitiert ein Ermittler die Frau. "Ich traute dem Typen nicht so recht." Doch auf die Frage, warum sie ihm das Kind dann nicht einfach weggenommen habe, soll die diplomierte Sozialarbeiterin gesagt haben: "Ich hätte doch gar nicht gewusst, wie das so schnell zu regeln gewesen wäre."