Amtsgericht Hamburg Sie waren ein Liebespaar. Dann soll sie ihn entführt haben – ein Prozess mit vielen offenen Fragen

Drei Angeklagte verdeckten am Tag des Prozess-Auftakts ihre Gesichter
Die drei Angeklagten kennen das mutmaßliche Opfer seit vielen Jahren. Im November 2018 sollen sie ihn entführt haben. Was damals wirklich geschah, liegt auch nach dem ersten Prozess-Tag noch im Dunkeln. 
© Jonas Walzberg/dpa
Sie war lange Jahre seine Geliebte, dann soll Anette W. ihren Ex-Freund gemeinsam mit zwei Bekannten entführt haben. Der erste Prozess-Tag am Amtsgericht Hamburg liefert in der verworrenen Geschichte keine Antworten, sondern zeigt lediglich, dass es viele offene Fragen in dem komplizierten Beziehungsgeflecht gibt.

"Ich weise die Vorwürfe aufs Schärfste zurück", liest Anette W. aus ihrer Erklärung vor. Zunächst mit brüchiger Stimme, dann werden die Worte lauter und klarer: "Nichts läge mir ferner, als meinen Freund aus Teenagerzeiten, meinen langjährigen Geliebten und Vater unserer beiden Kinder zu schädigen." Die Anklage sieht das anders: Im November 2018 soll die 60-Jährige gemeinsam mit zwei Bekannten ihren ehemaligen Geliebten, Volker A., entführt haben. Sie soll ihn auf Grundlage eines "zuvor gemeinschaftlich gefassten Tatplans" in ein Auto gezerrt und in die Wohnung ihrer Mutter gebracht haben. Dort sei er zwei Tage später von der Polizei gefunden worden. Vier Jahre später wird der Prozess nun vor dem Amtsgericht Hamburg verhandelt.

"Anklage beruht auf Unterstellungen" – Motiv bleibt unklar 

Volker A. habe zum Tatzeitpunkt mit seiner Ehefrau und einer Pflegekraft zusammengelebt. Diese kümmerte sich um den Mann, nachdem er im März 2017 ein Subduralhämatom, eine Einblutung zwischen zwei Hirnhäuten, erlitten hatte. Dabei hätte er viele kognitive und psychische Fähigkeiten verloren, weshalb sich der Mann laut Anklage "geistig auf dem Niveau einer mittleren bis schweren Demenz" befinde. Seine ehemalige Pflegekraft, Odeta V., stammt aus Litauen und ist zum Prozessauftakt am Freitag nach Hamburg gereist. Ihre Aussagen stehen im Mittelpunkt der ersten Verhandlung.

Eine Angeklagte mit verpixeltem Gesicht im Gerichtssaal
Anette W war lange Jahre die Geliebte des mutmaßlichen Opfers. Die beiden haben zwei Kinder.
© Jonas Walzberg / Picture Alliance

Die Angeklagten wollen sich zu den Vorwürfen nicht äußern. Lediglich für die kurze Erklärung ergreift Anette W., eine schlanke Frau mit dichtem, dunkelbraunem Haar, das Wort. Der Verteidiger ihrer Mitangeklagten betont, dass es sich bei den dreien um "unschuldige und ehrenhafte Bürger, die seit Jahrzehnten mit dem Opfer in Verbindung stehen", handele. Die Beziehungen zu Volker A. seien freundschaftlich oder – im Fall von Anette W. – ein Liebesverhältnis. Es sei nicht vorstellbar, dass der Mann gegen seinen Willen fortgeführt wurde. "Die Anklage beruht auf Unterstellungen", behauptet er. Es hätte nie einen Tatplan gegeben. Welche Absicht hinter der mutmaßlichen Entführung stecken könnte, bleibt auch während der restlichen Verhandlung unklar. Es scheint überhaupt kein Motiv zu geben – nur eines von vielen Rätseln, die in der Geschichte auftauchen. 

Hamburg: Richter weist Angeklagte zurecht 

Die Pflegekraft ist erst drei Stunden später vorgeladen – die Verhandlung pausiert. Presse-Leute versuchen, die Angeklagten vor dem Saal zu belagern. "Nicht mit ihnen sprechen", weist ein Verteidiger seine Mandantin, eine stämmige Frau mit blonden Haaren, an. Als der Prozess zur Mittagszeit wieder aufgenommen wird, kommen die Angeklagten zu spät. Wie bereits am Morgen dauerte die Einlasskontrolle im Strafjusitzgebäude länger als erwartet.

Der Richter weist die Angeklagten zurecht. Es handele sich um ein bekanntes Problem. Dementsprechend hätte man sich früher wieder ins Gebäude begeben müssen. Die nächste Ermahnung folgt sogleich: Der dritte Angeklagte, ein Herr mit schütterem Haar, steht auf, um Anette W. etwas zuzuflüstern. "Es war wirklich genug Zeit für Besprechungen", sagt der Richter mit scharfer Stimme. Er möge bitte keine Unruhe verbreiten. Der Mann setzt sich. Zeugin Odeta V. sitzt ebenfalls im Saal, zusammen mit einer Dolmetscherin. Die Pflegekraft aus Litauen trägt einen schwarzen Blazer mit silbernen Knöpfen. Das lange blonde Haar hat sie zu einem Dutt gebunden, aus dem eine einzelne Strähne herausragt. Sie wendet sich dem Richter aufmerksam zu, als dieser sie bittet, das Geschehen aus ihrer Sicht wiederzugeben.

Eine Frau soll den pflegebedürftigen Mann mitgenommen haben

Damals hätten ein Mann und eine Frau, die die Hausangestellte nicht kannte, vor der Tür gestanden. An die Namen könne sie sich nicht mehr erinnern, wohl aber an das Aussehen der beiden. Die Frau hätte blondes Haar gehabt, eine Brille getragen und sei – "Ich will sie nicht beleidigen" – etwas "runder" gewesen, übersetzt die Dolmetscherin. Ein kurzes Lachen geht durch den Zuschauerraum. Die Besucher seien in das Zimmer des Pflegebedürftigen gegangen. "Ich weiß nicht, wie lange sie dort waren", erzählt die 58-Jährige. Doch als sie nach dem Rechten schauen wollte, hätten die beiden Volker A. die Treppe runtergeführt. Die Fremden hätten die Haustür geöffnet und seien "schnell verschwunden".

Angeklagte, die ein Blatt Papier vors Gesicht hält, sitzt im Gerichtssaal
Eine der drei Angeklagten passt auf die Beschreibung der Pflegekraft: Blondes Haar, Brille und "etwas beleibter".
© Jonas Walzberg/dpa

Plötzlich sei eine andere Frau aufgetaucht. "Sie umarmte Volker, als würde sie ihn kennen", berichtet die Pflegekraft. Die Unbekannte sei schlank gewesen, hätte schwarze, lockige Haare gehabt und sympathisch gewirkt. Allerdings hätte sie stets versucht, mit einer Hand ihr Gesicht zu verdecken. Mit der anderen Hand hätte sie Volker A. zur Straße geführt. Sie hätte den Mann, der kaum noch ohne Hilfe laufen könne, schnell mit sich gezogen. "Wo wollen Sie hin? Weiß das seine Frau?“, wiederholt die Zeugin mit sich überschlagender Stimme, was sie damals gefragt hätte. Seine Frau weiß Bescheid, hätte die Unbekannte ihr geantwortet.

Sie habe den Mann zu einem dunklen Auto gebracht und die Beifahrertür geöffnet. Zwar hätte Volker A. sich von selbst hineingesetzt, doch "sie ging sehr grob mit ihm um und hat ihn geschubst, sodass er auf den Sitz gefallen ist", erinnert sich die 58-Jährige. Dann sei die Frau selbst in den Wagen gestiegen und sehr schnell davongefahren. Odeta V. sei schockiert und ängstlich zurückgeblieben, hätte am ganzen Leib gezittert. "Ich dachte, er wird geklaut", sagt sie.

Verworrener Prozess mit vielen offenen Fragen

Schließlich hätte sie die Ehefrau von Volker A. angerufen, die zum Tatzeitpunkt nicht zuhause war. Diese hätte die Polizei verständigt. Richter und Staatsanwaltschaft kommen auf den Polizeibericht zu sprechen, den die Beamten damals nach der Vernehmung Odetas und der Ehefrau verfasst hatten. Es ist vor allem ein Satz, der aufhorchen lässt: Volker A. sei freiwillig mitgegangen. Die Zeugin überlegt kurz. Ihre feinen Gesichtszüge nehmen einen nachdenklichen Ausdruck an. Dazu könne sie nichts sagen, sie hätte aber den Eindruck gehabt, dass Volker A. die mutmaßlichen Entführer kennen würde. Während des ganzen Vorfalls hätte der Pflegebedürftige sich nicht gewehrt und nichts gesagt. 

Der Staatsanwalt stellt eine Nachfrage. Ein Verteidiger, mit dem er sich am Morgen bereits gestritten hat, erhebt Einspruch. Das will sein Gegenüber nicht akzeptieren. "Sie haben heute Morgen bereits die Prozessordnung durcheinandergebracht", donnert er. Die beiden werden laut, liefern sich ein hitziges Wortgefecht, dem der Richter nur mit Mühe Einhalt gebieten kann. Die entscheidende Frage aber, die wohl den Ausgang des gesamten Prozesses bestimmt, kann nicht geklärt werden: Ging das mutmaßliche Opfer freiwillig mit oder handelt es sich, wie es in der Anklage heißt, um Freiheitsberaubung? In der verworrenen Geschichte gibt es viele Akteure. Wer von ihnen lügt? Bisher unmöglich zu sagen. Eher hat die Verhandlung noch mehr Fragen aufgeworfen. Ob die Wahrheit in den zwei weiteren Prozess-Tagen herausgearbeitet werden kann, wird sich zeigen.

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