Über ihren früheren Nachbarn reden die Menschen im osthessischen Dorf Wüstefeld ungern. Sie kannten ihn als freundlichen Mann, mit dem man sich bei einer Tasse Kaffee nett unterhielt. Von Mittwoch an steht er wegen einer unfassbaren Tat vor Gericht: Der "Kannibale von Rotenburg" soll einen 42-Jährigen vor laufender Kamera getötet und teilweise aufgegessen haben. Das Verbrechen setzte Wüstefeld, ein Ortsteil Rotenburgs, in einen Schockzustand, den die Menschen nur langsam verarbeiten. Vergessen können sie die Tat nicht.
"Wie konnte so etwas in unserer Nachbarschaft passieren?"
Wie ein Geisterhaus liegt der Tatort gleich am Eingang des Dorfes, ein Ort mit wenigen Häusern in einem Tal zwischen Wäldern. Die Rollläden des windschiefen Fachwerkgebäudes sind herunter gelassen, die Fenster oben mit Brettern vernagelt. Seit einem Jahr hat sich niemand um den Garten gekümmert, in dem der "Kannibale" Knochen seines Opfers vergraben hatte. Schaulustige hielten immer wieder vor dem Haus, erzählt der Nachbar, ein Polizist, der gleich nebenan wohnt. Manche schlichen sogar "frech" im Garten herum, in dem Regen und Wind Autowracks und einer Schaukel zusetzen.
Seit der Tat haben die Menschen versucht, zum Alltag zurückzukehren, doch das ist schwierig, weil bis heute niemand die Tat fassen kann. Nach der Festnahme ihres Nachbarn trafen sie sich wie jedes Jahr zu einer Versammlung. Als jemand angefangen habe, über das Verbrechen zu reden, seien einige gleich nach Hause gegangen, erinnert sich ein Nachbar. Die Tat beschäftige die Leute weiter, sagt der evangelische Pfarrer Friedrich Berger. "Sie fragen sich: Wie konnte so etwas in unserer Nachbarschaft passieren, ohne dass wir davon wussten."
"Das ist passiert, da muss man mit fertig werden"
Jeder entwickelte in Wüstefeld seine eigene Art, mit dem Verbrechen umzugehen. Der Polizist gibt sich nach außen unberührt. "Was gibt's da zu vergessen. Das ist passiert, da muss man mit fertig werden", sagt er und geht mit seinem Hund spazieren. Sein Nachbar Manfred Stück, Landwirt und Bundeswehr-Angestellter, baute dagegen für ein Heimatfest in der Nähe einen Motivwagen mit dem Slogan: "Kleines Dorf nun weltbekannt, ist Wüstefeld im Hessenland." Daneben war ein Grill mit Bratwürstchen zu sehen. "So viel Applaus habe ich noch nie bekommen", sagt Stück.
Zu dem Prozess und seinen ehemaligen Nachbarn hat er eine klare Meinung: "Der gehört hinter Schloss und Riegel, für immer." Nicht nur Stück hofft in Wüstefeld, dass der Beschuldigte zu einer langen Haftstrafe verurteilt wird. "Die Leute sehen dem Prozess gespannt entgegen", erzählt ein Nachbar. "Sie hoffen, dass er es nicht schafft, hier wieder aufzutauchen." Eins möchten viele in Wüstefeld nämlich nicht erleben: ihrem ehemaligen Nachbarn plötzlich wieder Auge in Auge gegenüber zu stehen.