"Ehrenmord"-Prozess Morsals Bruder starrt und schweigt

Ahmad O. steht vor dem Landgericht Hamburg, weil er seine Schwester Morsal mit über 20 Messerstichen getötet haben soll. Doch während viele Zuschauer den ersten Verhandlungstag aufmerksam verfolgen, wirkt der Angeklagte im Gerichtssaal trotz der schweren Vorwürfe seltsam unbeteiligt.

Als Ahmad O. kurz vor Przessbeginn in den Saal 237 des Hamburger Landgerichts geführt wird, setzt er sich hin und weint kurz. Dem 24-jährigen Deutsch-Afghanen wird vorgeworfen, seine 16-jährige Schwester Morsal mit 23 Messerstichen ermordet zu haben. Zu sagen hat der junge Mann mit dunkelviolettem Pullover über dem weißen Hemd im Prozess dann nicht viel: Knapp bestätigt er die persönlichen Angaben, die der Vorsitzende Richter, Wolfgang Backen, abfragt. Nach seinem Beruf gefragt, sagt O.: "Ich habe eine Ausbildung abgebrochen und dann Im- und Export gemacht und so. Mit Gebrauchtfahrzeugen." Dann schweigt er.

Richter Backen muss aus den Gerichtsakten vorlesen, wie das bisherige Leben des Ahmad O. verlaufen ist. 1984 in der afghanischen Hauptstadt Kabul geboren, kommt Ahmad Anfang der 1990er Jahre mit seiner Familie nach Deutschland. Er macht seinen Realschulabschluss, bricht aber eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann ab. Seine kriminelle Karriere reicht bis 1999 zurück, nach Jugendstrafen folgen Verurteilungen wegen Körperverletzung, Diebstahl, Sachbeschädigung und Alkohol am Steuer.

Keine Angaben zur Sache

Und nun steht er wegen Gewaltandrohung, Körperverletzung und Mordes vor Gericht: Ahmad O. soll seine Schwester Morsal im Mai 2008 auf einem Parkplatz in Hamburg St. Georg erstochen haben, weil er mit ihrem Lebenswandel nicht einverstanden war. 23 Stichwunden fanden die Gerichtsmediziner im Leichnam von Morsal O., mehrere Stiche trafen ihr Herz und ihre Lunge. Die 16-Jährige verblutete trotz eines Notarzteinsatzes. Das steht zumindest in der Anklageschrift, die Staatsanwalt Boris Bochnik verliest. Währenddessen sitzt Ahmad O. auf seinem Stuhl, beugt sich vor, spricht kurz und leise mit seinen Verteidigern, bevor er sich wieder zurücklehnt. An seiner Stelle ergreift O.s Verteidiger Thomas Bliwier das Wort: Sein Mandant werde keine Angaben zur Sache machen. Ahmad O. lässt derweil den Blick durch den Gerichtssaal schweifen.

Ihm gegenüber, auf der rechten Seite des Raumes, sitzen Schöffen und Gutachter. Links von Ahmad O., an der Stirnseite des Sitzungssaales, sitzen erhöht die drei Richter vor dunkler Holztäfelung. Einige Meter rechts von O. trennt eine etwa vier Meter hohe Wand aus Holz und Plexiglas ihn von den Zuschauern, darüber spannt sich ein Netz, das bis zur Decke reicht und verhindern soll, dass Zuschauer etwas in den Sitzungsraum werfen.

Kein Platz bleibt leer

Nur langsam hatte sich der Zuschauerbereich vor Verhandlungsbeginn gefüllt, zwei Sicherheitskontrollen mit Metalldetektoren musste jeder der Prozessbeobachter passieren, bevor er auf einer der massiven Holzbänke in Saal 237 Platz nehmen durfte. Doch als der Richter den Prozess eröffnet, ist kein Platz im Zuschauerraum mehr frei. Unter den Zuhörern sind viele Frauen unterschiedlichen Alters, in der ersten Reihe sitzen fünf Mädchen, deren dunkle Haare erahnen lassen, dass sie zur Familie des Angeklagten gehören könnten. Allen Journalisten, die sie daraufhin in einer Verhandlungspause ansprechen, geben sie freundlich, aber deutlich zu verstehen, dass sie rein gar nichts sagen werden. Und auch die fünf Männer im Publikum, die südländisch aussehen, schweigen.

Als die Verhandlung nach einer Pause um 13 Uhr wieder beginnt, gibt Ahmad O. einigen Zuschauern Handzeichen. Nun dreht sich eines der Mädchen in der ersten Reihe um und weist auf einen großen Mann mit schütterem, schwarz-grauem Haar, der rechts hinter ihr sitzt. Doch der wechselt nur Blicke mit dem Angeklagten.

Sanitäter kämpfen um Morsals leben

Richter Backen ruft nacheinander zwei Polizeibeamte in den Zeugenstand. Der 47-jährige Lothar S. und der 42-jährige Ralf H. waren mit als erste Polizisten am Tatort. S., ein schmaler Mann mit dunklem Bürstenschnitt, kann sich noch gut an den Einsatz erinnern, zu dem er am Abend des 15. Mai 2008 gerufen wurde. Eines fiel ihm besonders auf: "Der Beamte, der über Funk den Notarzt anforderte, klang sehr aufgeregt. Da ahnte ich schon, dass es schlimm aussehen muss", sagt S. Als er gegen 23.30 Uhr auf dem Parkplatz am U-Bahnhof Berliner Tor eintrifft, liegt Morsal O. im Scheinwerferlicht eines Polizeiwagens am Boden, Sanitäter und Polizisten kämpfen um das Leben der 16-Jährigen.

Zehn Minuten später treffen der Vater und ein weiterer Verwandter von Morsal und Ahmad O. an der Polizeiabsperrung ein. Der Vater wirkt dabei nach Aussage von S. sehr ruhig. Ob der Polizist sich erkundigt habe, wer Herrn O. benachrichtigt habe, will der Richter wissen. "Ja", sagt der Polizeibeamte, "als Antwort bekam ich: 'Wir haben sehr viele Freunde!'"

Abschottung nach außen

Offenbar sieht man bei den O.s Polizisten nicht als Helfer an, sondern als Personen, die sich nicht in Familienangelegenheiten einzumischen haben. Es ist diese Abschottung nach außen, die nach dem Vater am Tatort nun auch der Sohn im Gerichtssaal zeigt. Keine der Aussagen von Lothar S. und Frank H. scheint ihn aus der Ruhe zu bringen. Nur seine Verteidiger Thomas Bliwier und Hartmut Jacobi wechseln wenige Worte, während die Polizisten ihre Aussagen machen. Je nachdem, wie Ahmad gerade sitzt, geschieht das hinter dessen Rücken oder vor dem zurückgelehnten Angeklagten.

Regungen zeigt Ahmad O. erst, als die 14-jährige Azra C. schildert, was sie von der Tat beobachten konnte. Mit leiser Stimme berichtet die Schülerin im Gerichtssaal, dass sie am Abend der Tat mit Freunden am U-Bahnhof Berliner Tor gewesen sei, als sie die Schreie einer Frau gehört habe. Dadurch aufgeschreckt, sei sie mit einigen ihrer Freunde auf den Parkplatz gelaufen. "Dann habe ich gesehen, wie ein dunkel gekleideter Mann Morsal in die Haare gegriffen hat. Sie ist gestürzt und er trat ihr gegen den Kopf", sagt C. Zuerst dachte sie, er habe danach auf Morsal eingeschlagen, doch dann habe sie die Stiche in ihrem Rücken und ihr Blut entdeckt. Bei dieser Aussage faltet der Angeklagte die Hände vor seinem Gesicht zusammen, seine Augen suchen kurz auf dem kleinen Tisch vor der Anklagebank nach Halt, bevor sein Blick wieder durch den Gerichtssaal wandert.

Um kurz vor 14.30 Uhr beendet Richter Backen den ersten Verhandlungstag: Der Zeuge, der für diesen Tag noch geladen wurde, ist nicht erschienen. Bis Freitag, 9 Uhr, hat Ahmad O. nun wieder seine Ruhe - vor einem Prozess, der ihn kaum zu berühren scheint.

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