"Icke muss vor Jericht" Es ging um die Wurst

  • von Uta Eisenhardt
Eine Polizistin gerät in den Verdacht, in einem Supermarkt ein Würstchen gestohlen zu haben. Doch nicht sie ist es, die auf der Anklagebank sitzt, es ist der Detektiv. Ihm wird Nötigung vorgeworfen: Er soll von der jungen Frau ein Schuldanerkenntnis erpresst haben.

Autofahrten wirken einschläfernd. Auch der neun Monate alte Sohn von Grit Fischer schlummerte fest in seinem Kindersitz, als seine Mutter beschloss, bei einem Supermarkt anzuhalten. Dort wollte die Polizeibeamtin den Wochenendeinkauf für ihre fünfköpfige Familie erledigen. Das Baby ließ sie allein im Auto zurück.

"Die Dame machte einen Großeinkauf. Sie hielt sich eine dreiviertel Stunde im Markt auf. Dabei riss sie mit ihren Fingernägeln eine Packung Schinkenzwiebel-Mettwurst auf und verspeiste diese stückchenweise. Die leere Folie klemmte sie unter das Kaffee-Regal", sagt der Ladendetektiv, der jetzt als Angeklagter vor Gericht steht.

Ein Würstchen verspeist

Michael Sonntag* begann, die Kundin zu beobachten. Als die große, hübsche Blondine ihren Einkauf zur Kasse schob, reihte der 34-Jährige sich hinter ihr in die Warteschlange. Er schaute genau hin, als Grit Fischer einen riesigen Warenberg für 178 Euro aufs Band und wieder zurück in ihren Einkaufswagen stapelte. Weil die Kundin der Kassiererin nichts von der Wurst sagte, glaubte der Detektiv, sie habe das Verzehrte nicht bezahlt. Sie hätte sich bei ihrem Einkauf beeilt, sagt die Polizistin vor Gericht. Noch immer wühlt sie die Erinnerung an jenen Dezembermorgen sichtlich auf. Sie sagt, sie hätte damals nicht gefrühstückt und darum eines von zwei gemeinsam verpackten 80g-Würstchen im Wert von 49 Cent im Supermarkt verspeist. Die Packung mit der übriggebliebenen Schwesternwurst habe sie aufs Band gelegt.

"Versteckte Kamera?"

An der Kasse hielt ihr der Mann mit der Stirnglatze "so eine komische Blechmarke unter die Nase", sagt Grit Fischer. "Was wollen Sie denn?", will sie ihn gefragt und keine Antwort erhalten haben. Sie reimte sich nun alles Mögliche zusammen: Wird das jetzt eine Kundenbefragung? Ist das die "Versteckte Kamera?" Immer mehr Angestellte des Supermarkts versammelten sich um die Blondine und bugsierten sie samt ihres Einkaufs ins Büro.

Dort präsentierte Sonntag der Mettwurstesserin die leere Pelle. "Ja, die habe ich gegessen", sagte Grit Fischer. "Das ist Diebstahl", bekam sie zu hören. "Ich habe die Wurst bezahlt", konterte die Kundin. Doch der Detektiv blieb hartnäckig: Die vermeintliche Diebin sollte ihm ihren Ausweis geben und 50 Euro "Fangprämie" an die Supermarktkette entrichten. Die junge Mutter dachte an ihren kleinen Sohn, der jeden Moment aufwachen konnte und ängstlich nach ihr schreien würde.

"Ich bin auch nur ein Mensch"

"Ich möchte gern mein Kind holen", sagte sie zu Sonntag. Doch der hielt das für eine Ausrede. "Die Dame war sehr ungehalten und zwischendrin auch ziemlich frech. Angeblich musste sie ganz schnell zu ihrem Kind. Daran hat sie in den 45 Minuten vorher auch nicht gedacht", sagt der Angeklagte. Seiner Meinung nach tätigt eine Mutter, deren Kind im Auto schläft, nicht in aller Ruhe einen Großeinkauf und verzehrt nebenbei noch genüsslich eine Wurst.

Wäre es nicht besser gewesen, mit der jungen Frau zum Auto zu gehen und das Kind zu holen", fragt die Richterin den Angeklagten. Damit hätten die Detektive schlechte Erfahrungen gemacht, antwortet Sonntag. "Wir wurden schon mal niedergeschlagen, einmal sind die Beschuldigten getürmt". Der Staatsanwalt hakt noch einmal nach: "Sicher haben Sie Ihre Vorschriften, aber ein Kind ist schließlich ein höheres Gut. Sind Sie geschult worden?", will er wissen. Sonntag rapportiert sein gelerntes Wissen: Detektive sollen die Situation beruhigen und notfalls die Polizei rufen. "Aber ich bin auch nur ein Mensch", argumentiert er. "Die Polizei ist für mich der letzte Weg." Es fällt schwer, dem Angeklagten das zu glauben.

Uta Eisenhardt

Uta Eisenhardt ist Berlinerin in dritter Generation. Seit fünf Jahren ist sie Gerichtsreporterin und schreibt für stern, "Spiegel", "Zeit", "Berliner Zeitung", "Tagesspiegel" und die "Taz". In der neuen stern.de-Kolumne "Icke muss vor Jericht" berichtet sie aus dem Berliner Amtsgericht, einem der größten Deutschlands. Jede Woche schreibt Eisenhardt über einen Prozess mit dem gewissen Etwas: manchmal traurig, manchmal kurios - immer spannend.

Die Kundin schrie und zitterte damals vor Aufregung - das beobachtete ein Verkäufer. Der Ladendetektiv drohte: "Wenn Sie nicht aufhören, weiter so ein Theater zu machen, hole ich die Polizei." Das könnte eine Weile dauern, ahnte die beschuldigte Polizistin und gab dem Detektiv ihren Ausweis.

"Ganz langsam schrieb er ihn ab", sagt Fischer vor Gericht. Auf fünf Minuten käme es nicht an, soll der Angeklagte gesagt haben - daran erinnert sich auch die Kassiererin, die als prophylaktische Zeugin im Büro weilte: Ertappte Diebinnen sollen nicht behaupten können, der Detektiv sei ihnen zu nahe gekommen.

Nachdem Grit Fischer sich nun unfreiwillig vorgestellt hatte, wollte sie den Namen ihres Gegenübers wissen. Der zeigte ihr einen Ausweis mit lauter Abkürzungen. Einen Namen konnte sie darauf nicht erkennen. "Ich möchte wissen, wer Sie sind", habe sie gesagt und dies dreimal wiederholen müssen. Erst dann soll Sonntag ihr seine Dienstnummer gegeben haben mit der Bemerkung: "Das andere ist uninteressant". So hat es die Kassiererin gehört.

50 Euro Fangprämie

Doch noch immer durfte die junge Mutter nicht gehen. Der Detektiv verlangte von ihr eine "Fangprämie". Weil sie kein Bargeld dabei hatte, sollte sie den Diebstahl schriftlich zugeben und sich zur Zahlung von 50 Euro verpflichten. Damit finanziert die Supermarktkette die Arbeit der Detekteien. "Ich musste das unterschreiben", sagt Grit Fischer. Zwanzig Minuten dauerte ihr unfreiwilliger Aufenthalt im Büro des Supermarktes. Etwa eine Stunde lang war ihr Baby allein. Als die Mutter endlich zu ihrem Auto zurück kehren durfte, schrie ihr Kind bereits nach ihr.

Wer handelte richtig, wer falsch? "Kann sein, dass der Detektiv die Kundin ein bisschen genötigt hat", sagt der Staatsanwalt. "Aber durch das Verhalten der Frau ist die Sache eskaliert." Er schlägt vor, das Verfahren gegen Sonntag wegen Geringfügigkeit einzustellen. Die Richterin stimmt dem zu. Ihrer Meinung nach hat sich nicht nur der Detektiv, sondern auch die Kundin falsch verhalten: "Wenn mein Kind jeden Moment aufwachen kann, klaue, äh, esse ich nicht noch eine Wurst", sagt die Richterin.

Keiner kontrollierte den Einkauf

Sie argumentiert weiter: Mit dem Verzehr ihres Frühstückssnacks bestärkte die Kundin den Detektiv in seiner Meinung, das mit ihrem Baby sei lediglich ein Vorwand. Man könne nicht in einen Laden gehen und dort einfach etwas essen. Wenn man es trotzdem tue, muss man das ansagen. Die Richterin versteht auch nicht, warum niemand auf die Idee kam, den Einkauf zu kontrollieren. So hätte man den Irrtum gleich klären können.

Grit Fischer ist fassungslos über die richterliche Entscheidung. Wie oft hätten sie und ihre Kinder im Supermarkt etwas gegessen und die leeren Verpackungen auf das Band gelegt, ohne Probleme zu bekommen!

Das erpresste Schuldanerkenntnis hat sie inzwischen von der Supermarktkette zurück bekommen, die Fangprämie musste sie nicht zahlen. Seit dem Vorfall kauft die ehemalige Stammkundin dort nicht mehr ein. Sie geht nun zur Konkurrenz. Die ist nicht weit entfernt.

*Namen von der Redaktion geändert

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