Ob er mal den Gartenschlauch benutzten dürfe, fragte der Fahrer des Behindertenbusses. Dann drehte er das Wasser auf und spülte dem siebenjährigen Marvin das Erbrochene von der Kleidung. Der Junge mit Down-Syndrom wehrte sich nicht, er weinte nicht einmal, er schlotterte nur vor Kälte. Zwar wurden an diesem Apriltag 19 Grad Celsius erwartet, doch es war früh am Morgen, als das Drama geschah.
Die Staatsanwaltschaft wertete diese Tat als Körperverletzung und erhob Anklage, die vor allem auf den Beobachtungen von Ellen Volkmann*, der Besitzerin des Gartenschlauchs, beruht. Deren neunjährige Tochter ist ebenfalls ein Kind mit Down-Syndrom, das von Wolfgang Gretel* an jenem Morgen abgeholt werden sollte.
Als die unfreiwillige Zeugin begriff, was geschehen war, holte sie dem Jungen trockene Anziehsachen: "Er hatte ja den ganzen Schultag noch vor sich", sagt die Heilpraktikerin auf dem Gerichtsflur. Der Bus fuhr weiter, doch der Vorfall ließ ihr keine Ruhe. Sie rief die Lehrerin an, um zu erfahren, wie das Kind heißt und wie es ihm geht. Außerdem wollte sie die Sachen, die sie dem Jungen angezogen hatte, wieder zurück haben.
In der Schule sagte man ihr, dass das Kind krank sei. Ellen Volkmann rief bei den Eltern an, die sich bereits über die unbekannten Anziehsachen gewundert hatten, und berichtete von dem Vorfall. "Die Kinder können nichts erzählen. Oft gibt es Übergriffe, über die sie nicht sprechen. Darum müssen sich die Eltern untereinander informieren", begründet die Heilpraktikerin ihr Tun, dass die Gretels ihr sehr übel genommen hätten.
Marvins Eltern beschlossen, den Fahrer anzuzeigen, was Ellen Volkmann "doof" findet. Sie hätte sich für den Fahrer ein Gespräch gewünscht, in dem dieser aufgeklärt wird, wie man mit behinderten Kindern umgeht. Daran mangele es. Die kleinen Fahrgäste seien nämlich recht anstrengend: "Die Kinder treten, schreien, spucken, machen alles Mögliche", sagt die Heilpraktikerin. Manche Fahrer würden die Kinder dann zerren, fest an den Armen packen oder anschreien. "Das sind ungeschulte Leute, die mit den Kindern zu tun haben. Die gehen mit ihnen nicht so um, wie sie es verdient hätten", sagt Ellen Volkmann.
Auch Wolfgang Gretel habe die Kinder oft grob behandelt, las der Richter in den Akten. Bei seiner polizeilichen Vernehmung erklärte der 66-Jährige, Marvin habe sich einen Finger in den Hals gesteckt und sich deshalb übergeben. Nach dem Vorfall verlor er seinen Job beim Fahrdienst und muss jetzt mit 550 Euro Rente auskommen.
Mit schamhaft gebeugtem Rücken sitzt der schmächtige Brillenträger nun vor dem Richter, sein Verteidiger hat bereits alles mit dem Gericht geklärt. "Es war keine angemessene Behandlung", sagt der Richter. "Aber wir müssten dem Herrn Gretel nachweisen, dass hier im juristischen Sinn eine Körperverletzung vorliegt." Bekam das Kind seine Mittelohrentzündung durch das Abspritzen oder übergab es sich vielmehr, weil es bereits erkrankt war?
"Sie sind kein Krimineller", sagt der Richter zum Angeklagten. "Es ist aus der Situation entstanden." Er schlägt vor, das Verfahren gegen eine Entschuldigung und Zahlung von 225 Euro an die Eltern des geschädigten Kindes einzustellen. Obendrein muss der Rentner seinen Verteidiger bezahlen, das sind etwa 500 Euro. Erleichtert nimmt Gretel das Angebot an. Dann ringt er sich eine gen Fußboden vorgetragene Entschuldigung ab: "Es war nicht beabsichtigt, es tut mir leid." Ellen Volkmann findet das "schwach".
Sie hat den Fahrdienst inzwischen abbestellt und fährt ihre Tochter nun selbst in die Schule. Unverständlich bleibt ihr nur, warum Marvins Eltern die Anziehsachen trotz wiederholter Bitte nicht zurück gaben. Inzwischen sei das aber auch egal: Ihren Kindern würde diese Kleidung sowieso nicht mehr passen.
* Namen von der Redaktion geändert