Am Sonntag begann Chanukka, das jüdische Lichterfest. Für Millionen von Familien weltweit ist es ein Fest der Hoffnung, des Zusammenhalts, der kleinen täglichen Lichter, die symbolisch die Dunkelheit vertreiben. Und während in Deutschland Kerzen angezündet wurden, um Geschichte und Tradition zu feiern, erreichte uns aus Australien eine Nachricht, die das Herz schwer macht: Ein antisemitischer Anschlag hat eine Chanukka-Veranstaltung getroffen, mehrere Menschen wurden getötet, viele verletzt.
Ich kenne das Gefühl der Ohnmacht in solchen Momenten. Ich spüre die Wut und den Schmerz, die diese Taten hinterlassen – auch aus der Ferne. Doch meine Reflexion geht über die persönliche Betroffenheit hinaus: Wir werden in der Gegenwart eines solchen Terrors erneut daran erinnert, dass Antisemitismus kein fernes, abstraktes Problem ist. Er ist ein Prüfstein für jede Gesellschaft und für jeden Einzelnen von uns.
Der Autor
Asif Malik ist Dipl.-Betriebswirt und MBA. In Hamburg führt er als Unternehmer ein Immobilienmaklerbüro und eine Personalberatung. Ehrenamtlich engagiert er sich seit 20 Jahren im interreligiösen Dialog und ist Mitinitiator zahlreicher integrativer Projekte
Gerade für Muslime, die im öffentlichen Diskurs häufig mit Fragen von Loyalität und Verantwortung konfrontiert werden, ist dies eine Frage der Haltung.
Wer an Gott glaubt, muss an die Würde des Anderen glauben
Es ist einfach, sich zu distanzieren, die Tat zu verurteilen und weiterzugehen. Doch Distanzierung allein genügt nicht. Antisemitismus prüft nicht nur die Opfer, er prüft uns. Jede Stunde, jede Diskussion, jede Form von Schweigen oder Relativierung zeigen, wo unsere moralischen Prioritäten liegen. Wer wegschaut, wer auf Abstriche in der Empathie besteht, der überlässt die moralische Agenda jenen, die Hass säen. Wer Antisemitismus zulässt, lässt als Konsequenz auch Islamophobie zu.
Dabei geht es nicht um Schuldzuweisungen an ganze Gemeinschaften, sondern um die Bereitschaft, konkrete Verantwortung zu übernehmen. Religion darf nicht in Lippenbekenntnissen enden. Sie ist ein moralischer Kompass, wenn sie ernst genommen wird. Wer an Gott glaubt, muss an die Würde des Anderen glauben – nicht nur, wenn es bequem ist, sondern besonders dann, wenn Gefahr und Widerstand drohen. Das Prinzip ist klar: Wer Menschenrechte, Glaubensfreiheit und die Unversehrtheit der Mitmenschen schützt, schützt den Kern der eigenen ethischen Überzeugung.
Als Muslim beobachte ich, wie oft im Nahen Osten und in westlichen Diskursen politische Leidenschaften den Blick vernebeln. Schmerz über Gewalt wird leicht in Reflexe von Schuldzuweisungen und Kollektivdenken verwandelt. Das gilt besonders in Momenten, in denen antisemitische Narrative auf Resonanz stoßen. Doch Schmerz kann nicht Rechtfertigung sein. Wer zulässt, dass Hass und Stereotype im eigenen Umfeld Fuß fassen, untergräbt nicht nur die Sicherheit von Jüdinnen und Juden, sondern auch den Sinn des eigenen Glaubens.
Der Anschlag am Bondi Beach darf uns nicht lähmen
Chanukka lehrt uns etwas Entscheidendes: Licht entsteht nicht aus dem Rückzug, sondern aus der bewussten Entscheidung, jeden Tag ein Stück Dunkelheit zu durchbrechen. Solidarität ist kein abstrakter Wert, sie muss sichtbar werden. Sie zeigt sich in Schutz, in Bildung, in Dialog. Sie zeigt sich in der Bereitschaft, Präsenz zu markieren – in Synagogen, in Schulen, in Moscheen, auf der Straße. Wer schweigt, lässt die Dunkelheit wachsen; wer handelt, schafft Räume der Sicherheit und des Vertrauens.
Die Tat in Australien ist ein Schock, aber sie darf uns nicht lähmen. Sie ist ein Aufruf, unsere Verantwortung ernst zu nehmen – aktiv, konsequent, sichtbar. Wir müssen deutlich machen, dass antisemitische Gewalt uns alle betrifft. Sie bedroht die Grundlagen unserer Gesellschaft, unsere gemeinsamen Werte, das Geflecht von Rechtsstaatlichkeit, Respekt und Freiheit. Wer Juden angreift, greift uns alle an; wer die Vielfalt und das Miteinander bedroht, greift die moralische Substanz unserer Gemeinschaft an.
In einer Zeit, in der Hass global und lokal neue Formen findet, muss der Test der Solidarität täglich bestanden werden. Muslime und Nichtmuslime, Juden und Christen, alle, die in einer pluralen Gesellschaft leben, sind gefordert: Jede Handlung, jedes Zeichen der Unterstützung, jede Stimme gegen den Hass zählt. Die Kerzen von Chanukka erinnern uns daran: Licht breitet sich nur aus, wenn wir es selbst entzünden.