Als am Sonntag, den 20. Juni, um 13.46 Uhr auf dem Hamburger Hauptbahnhof die Regionalbahn nach Bargteheide in Schleswig-Holstein einfährt, steigt auch Anne H. in den Zug. Sie trägt eine braune Hose, eine blaue Jacke und zwei große Taschen in Grün und Weiß. Das Mädchen fällt niemandem wirklich auf, es kann ja keiner ahnen, dass es nur wenig später Opfer eines Verbrechens werden wird. Die 25-Jährige will in 30 Minuten zu Hause sein. Ihre Eltern warten schon - doch sie warten vergebens. Eine ganze Woche lang. Denn die zierliche blonde Arzthelferin taucht erst am 27. Juni wieder auf, als ein Wagen sie in der Nähe der Wohnung ihres Vaters absetzt. Die sperrige Polizeimeldung drei Tage später lautet: "Straftaten zum Nachteil der Anne H. von Kriminalpolizei aufgeklärt." Sie bestätigt, was die Eltern des Mädchens schon am Tag des Verschwindens ihrer Tochter befürchtet hatten, und was ihre Mutter schließlich mit dem Satz zusammenfasst: "Sie hat unvorstellbar Grausames erleiden müssen."
Anne H. wird lange brauchen, um die Horrorwoche zu verarbeiten, die begann, als sie ahnungslos und voller Freude auf ein schönes Wochenende mit ihrer Familie und den Freunden am 20. Juni um 14.16 Uhr in Bargteheide aus dem Zug stieg.
Ein "Zufallsopfer"
Den Ermittlungen der Kriminalpolizei Ahrensburg zufolge, war das Mädchen zu Fuß auf dem Weg zum Elternhaus, als es an einem weißen Transporter vorbeikam, dessen Fahrer es plötzlich packte, in den Wagen zerrte, ihm die Augen verband und es fesselte. Der 49 Jahre alte Mann, dem Anne H. noch nie zuvor begegnet war, fuhr anschließend mit seinem Opfer zu sich nach Hause, sperrte es in das Schlafzimmer seines Hauses in einer Ortschaft im Kreis Stormarn ein und missbrauchte es in der Folge mehrfach. Ein kaum vorstellbares Martyrium, das offenbar so abrupt endete, wie es begonnen hatte.
Vielleicht hatte der Täter, der zuvor kriminalpolizeilich noch nicht in Erscheinung getreten war, Gewissensbisse bekommen, vielleicht ahnte er aber auch, dass er nicht unentdeckt bleiben würde. Unmittelbar nach dem Verschwinden ihrer Tochter hatte die Familie eine offensive Suchaktion gestartet und dabei auch das Internet genutzt. Auf der Seite www.suche-anne.de, die der Arbeitgeber von Annes Mutter eigens für die Suche eingerichtet hatte, stand schon wenig später: "Sollten Sie Anne gesehen haben, melden Sie sich bitte! Jeder Hinweis ist wichtig! Danke!"
"SIE LEBT! Das ist ein großes Wunder und Geschenk"
Tausende User folgten der Bitte. Tagelang wurde im Netz heftig darüber diskutiert, wo das Mädchen sein könnte und was die Umstände seines Verschwindens sind. Dann endlich die Nachricht, dass Anne H. wieder frei ist. Ihre Mutter schreibt: "Vielen Dank für Ihre Unterstützung, die vielen Tipps, Hinweise und auch die lieben Worte, die Sie uns gesendet haben. Wir haben eine Woche lang um das Leben unserer Tochter und Freundin gebangt. Die Ungewissheit war grausam! (…) Nun ist sie wieder zu Hause. SIE LEBT! Das ist ein großes Wunder und Geschenk."
Dass sich der Kidnapper kurz nach der Freilassung des Mädchens offenbar selbst das Leben genommen hat, stellten die Polizisten fest, als sie am Mittwoch mit Spezialeinsatzkräften das Haus des Verdächtigen durchsuchten und seinen Leichnam fanden. Er muss keine Antwort mehr geben auf das Warum seiner grausamen Tat.