Interview "Kannibale" hätte wegen Mordes verurteilt werden müssen

Aus Sicht des Bremer Rechtsprofessors Lorenz Böllinger hätte der "Kannibale von Rotenburg" wegen Mordes verurteilt werden müssen.

Der "Kannibale von Rotenburg" hätte aus Sicht des Bremer Rechtsprofessors Lorenz Böllinger wegen Mordes verurteilt werden müssen. Das Urteil des Landgerichts Kassel, das heute gegen den angeklagten Armin Meiwes achteinhalb Jahre Haft wegen Totschlags verhängt hat, werde in der Revision keinen Bestand haben. "Ich prognostiziere, dass der Bundesgerichtshof sagen wird: So geht es nicht.", sagte Böllinger, der zugleich Psychologe und Psychoanalytiker ist.

Böllinger meint zudem, das Gericht hätte Meiwes verminderte Schuldfähigkeit zubilligen müssen - womit man ihn in einer psychiatrischen Klinik hätte unterbringen können: "Meines Erachtens ist der Mann dringend behandlungsbedürftig." Die Chancen für eine Besserung schätzt Böllinger in solchen Fällen mit 50 zu 50 ein, eine lange Behandlung vorausgesetzt. Sitze er dagegen seine Strafe im Gefängnis ab, "dann besteht eine beträchtliche Wiederholungsgefahr, wenn er wieder rauskommt".

Tötung zur Befriedigung des Geschlechtstriebs und aus niedrigen Beweggründen

Aus Sicht des Professors, zu dessen Forschungsschwerpunkten die Sexual- und Gewaltdelinquenz gehört, hätte das Landgericht gleich zwei "Mordmerkmale" bejahen müssen: Tötung zur Befriedigung des Geschlechtstriebs und aus niedrigen Beweggründen. Denn eine solche Tat verstoße gegen die elementarsten ethischen Normen: "Unsere Gesellschaft kann nicht akzeptieren, dass jemand umgebracht wird, um ihn aufzuessen." Das Vorliegen eines Mordmerkmals ist Voraussetzung dafür, dass eine vorsätzliche Tötung als Mord bestraft werden kann - der zwingend lebenslange Haft nach sich zieht.

Das Gutachten, das Meiwes zwar eine Persönlichkeitsstörung, gleichwohl jedoch die volle Schuldfähigkeit attestiert hat, hält Böllinger für fehlerhaft. In seiner psychotherapeutischen Praxis habe er Erfahrung mit Menschen gesammelt, deren Persönlichkeit gespalten sei. "Sie kippen zwischen zwei Zuständen hin und her." Auf der einen Seite trete Meiwes intelligent und eloquent auf. Die öffentliche Aufmerksamkeit beim Prozess habe diesen "alltagstauglichen" Zustand möglicherweise stabilisiert.

Auf der anderen Seite spüre er einen durch Ohnmachtsgefühle ausgelösten, nicht steuerbaren Drang, seine "völlig abstrusen Fantasien auszuagieren". "Durch das Aufessen will er innerlich eine Leerstelle füllen." Diesen Zustand lebe er heimlich aus, weil er auf der anderen Seite über eine funktionierende Persönlichkeit verfüge. In den meisten Fällen würden solche Störungen in der Fantasie ausgelebt. "In diesem Fall haben sich Täter und Opfer wohl in einer Art Rauschzustand gegenseitig beflügelt", vermutet Böllinger.

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