Missbrauch an Odenwaldschule Von Hentig bestreitet Zusammenhang mit Reformpädagogik

Der Wegbereiter der Bildungsreformen in Deutschland, Hartmut von Hentig, hat vor Rückschlüssen von den Missbrauchsvorwürfen an der Odenwaldschule auf die Konzepte der Reformpädagogik gewarnt.

Der Wegbereiter der Bildungsreformen in Deutschland, Hartmut von Hentig, hat vor Rückschlüssen von den Missbrauchsvorwürfen an der Odenwaldschule auf die Konzepte der Reformpädagogik gewarnt. "Die Beschuldigungen müssen geklärt worden sein, bevor man anfangen kann, einen Zusammenhang mit irgendeinem pädagogischen Konzept herzustellen oder zu leugnen", sagte von Hentig dem "Spiegel". Zu den Vorwürfen gegen den früheren Direktor der Schule, der sein Lebensgefährte ist, sagte er, er habe nie einen entsprechenden Verdacht geschöpft.

Der Pädagoge von Hentig gilt als Nestor der deutschen Reformpädagogik und Wegbereiter der Bildungsreformen der 60er und 70er Jahre. Von Hentigs Lebensgefährte Gerold B. wird vorgeworfen, als Lehrer und Direktor an der ebenfalls der Reformpädagogik verpflichteten Odenwaldschule in Heppenheim jahrelang Schüler sexuell missbraucht zu haben.

Hentig betonte in einem Brief an den "Spiegel", bisher seien zu den Vorwürfen an der Odenwaldschule "nur Aussagen gesammelt, nicht aber geprüft, Personen zugeordnet und kategorisiert worden". Die derzeitige Schulleiterin sei "im Begriff, die Aufklärung zu versäumen, wenn nicht gar zu verderben, indem sie von vorneherein Aussagen der Beschuldiger, deren Erinnerung an lang Zurückliegendes, zum Teil auch bloße Mutmaßungen, als Fakten behandelt hat".

Es sei richtig, dass sie das ernst nehme, was ehemalige Schüler ihr sagten, sagte von Hentig. "Aber solange sie nicht auch andere ehemalige Schüler, Erwachsene, Eltern angehört und nicht auch Verbindung zu den Beschuldigten wenigstens gesucht hat, sollte sie sich der rechtsstatlich gebotenen Vorbehaltsklausel bedienen." Von Hentig regte an, nach dem Vorbild anderer Institutionen eine unabhängige "Autorität" einzusetzen, die die Untersuchungen leite, und schlug dafür unter anderen Rita Süßmuth, Heiner Geißler oder Joachim Gauck vor.

Zur Frage, ob die Verfechter der Reformpädagogik deren mögliche Ausnutzung durch pädophile Pädagogen nicht erkannt hätten, sagte von Hentig, man könne nur die tatsächliche Ausnutzung einer Theorie zu falscher Praxis erkennen. "Da ich einen Zusammenhang zwischen Reformpädagogik und sexuellem Missbrauch von Kindern nicht sehe, wüsste ich nicht, wohin meine Gedanken da gehen sollten."

Für alle pädagogische Einrichtungen gelte, dass zum Schutz der Kinder zwei Voraussetzungen gegeben sein müssten: "Jeder muss seines Bruders und seiner Schwester Hüter sein - und alle müssen in der Lage sein, über sexuelle Fragen frei (nicht medizinisch, nicht verklemmt, nicht mit der Brutalität der Gosse) zu reden."

Im Zusammenhang mit B. mache er sich keine Vorwürfe, dass er etwas hätte bemerken müssen, schreibt von Hentig. "Die könnte ich mir doch nur machen, wenn es einen Anlass dazu gegeben hätte - eine Verdacht erregende Wahrnehmung, ein Misstrauen, ein mir zugetragenes Gerücht. Ich habe ja dauernd und genau hingesehen: voll Neid, wie gut diesem Mann gelang, auf Kinder einzugehen, ihnen etwas zu erklären, sie durch Ablenkung oder geduldiges Zureden von einem Unfug abzuhalten."

Während B.s Zeit an der Odenwaldschule habe er ihn vermutlich einmal jährlich besucht, selten länger als einen Tag und meistens verbunden mit einer Tagung oder ähnlichem, schreibt von Hentig. "Wenn ich übernachtete, dann in der Regel im offiziellen Gästezimmer der Schule."

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