Jeden Freitag besuchen die Eltern von Heike Block das Grab ihrer Tochter auf einem abgelegenen Waldfriedhof in Hamburg. Vor einem Jahr, am 18. Dezember, wurde die 35-jährige Lehrerin Heike Block in Bremen von ihrem ehemaligen Schüler mit 22 Messerstichen ermordet. Das Landgericht Bremen verurteilte Gero S. im August zu 15 Jahren Freiheitsstrafe und ordnete die Unterbringung in der geschlossenen Psychiatrie an.
Der Mord sorgte bundesweit für Schlagzeilen. Denn es hatte viele Warnhinweise gegeben. Gero S. stellte seiner Lehrerin monatelang nach. Doch anstatt Heike Block zu schützen, verfügte der Schulleiter, dass die Lehrerin ihren aufdringlichen Schüler einzeln betreuen musste, wie der Stern vor Prozessbeginn im Mai enthüllte.
Staatsanwaltschaft und Gericht fanden deutliche Worte. "Unprofessionell" und "stümperhaft", sei das Verhalten des Schulleiters gewesen, sagte der Staatsanwalt. Die Richter sprachen von einer "unglücklichen Entscheidung" und hielten dem Schulleiter, der im Prozess versucht hatte, seine Rolle zu beschönigen, vor, seine Aussagen seien "nicht immer glaubhaft" gewesen.
Behörde war frühzeitig informiert
Trotzdem hat die Schulbehörde Lüneburg den Eltern der ermordeten Lehrerin jetzt signalisiert, dass sie ihre Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Direktor wegen Verletzung der Fürsorgepflicht zurückweisen will. Womöglich tut sich die Behörde nicht ohne Grund so schwer, gegen Schulleiter Sch. vorzugehen. Denn ein jetzt aufgetauchter Schriftwechsel belegt, dass die Behörde früh über den Stalkingfall informiert war.
Im Oktober 2007
legt Heike Block ein Protokoll an, beschreibt, wie Gero S. ihr nachstellt. "An der Zuverlässigkeit der Angaben" bestehe "kein Zweifel", stellt das Gericht später fest.
Heike Block ist nicht die einzige Lehrerin, die sich von Gero S. bedroht fühlt. Auch ihre Kollegin Cornelia N. legt
im Januar 2008
ein Protokoll an. "Dies ist bitte wie eine Eidesstattliche Erklärung gedacht, falls ich nicht in der Lage sein sollte, im Ernstfall eine Aussage zu machen", schreibt sie. Gero S. habe ihr anvertraut, dass er an einer Waffe baue, so Cornelia N. "Es wäre schade, wenn Gero auf Enten zielt, viel bedauerlicher, wenn er sich selbst was antut, und ganz entsetzlich, wenn Frau Block oder sonst wem etwas passiert", warnt Cornelia N. den Schulleiter laut Protokoll. Der Direktor erinnert sich nicht an das Gespräch.
Am 11. Januar 2008
geht Heike Block mit Cornelia N. zur Polizei. Die Beamten stellen Schwarzpulver bei Gero S. sicher und leiten ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz ein. Sie verständigen den Sozialpsychiatrischen Dienst. Gero S. willigt ein, eine Therapie zu machen, bittet Heike Block, ihn zum Psychiater zu begleiten. Beim Psychiater gesteht Gero S. der Lehrerin seine Liebe. Heike Block informiert den Schulleiter. Der ermahnt Gero S., die Lehrerin endlich in Ruhe zu lassen.
Heike Block soll Stalker Einzelunterricht geben
Trotzdem veranlasst er, dass Heike Block Gero S. alleine betreuen muss. "Entschluss von mir, dass ich Gero nicht mehr in meinem Kurs haben möchte", notiert Heike Block am 17. Januar 2008. "Gero weigerte sich aber, das zu akzeptieren, schlug vor, dass ich ihn allein betreuen kann. Entscheidung von Herrn Sch. und Frau B., dass Gero in meinem Kurs verbleibt und dass es besser für alle ist, wenn ich ihn einzeln betreue. Meine Einwände dagegen wurden nicht ernst genommen. So mache ich mit Gero Einzeltermine ab". Gero S. antwortet Heike Block mit einer höhnischen Mail. "MfG, dein Ein-Personen-Kurs."
18. Januar 2008
: Schulleiter Sch. fragt Lehrerin Cornelia N., ob sie Gero S. betreuen und ihm bei alltäglichen Dingen helfen will. Cornelia N. lehnt ab, schreibt dem Direktor
am 29. Januar 2008
: "Ich habe für meine Entscheidungsfindung den Schulpsychologen eingehend zu Rate gezogen..." Die Schulbehörde bestätigt, dass der Psychologe Cornelia N. beraten habe. Er unterliege aber der Schweigepflicht, "so dass eine Weitergabe der Information an die Schulaufsicht nicht erfolgte".
Wenig später,
am 11. Februar 2008
, warnt Cornelia N. den Schulleiter schriftlich: "Ich empfinde die Situation als besorgniserregend und auch bedrohlich, sowohl für Gero als auch für andere, vor allem für die betroffene Kollegin. Ich mache dies hiermit aktenkundig." Der Schulleiter verlässt sich jedoch auf die Stellungnahme eines Psychiaters, der Gero S. für "depressiv" und "suizidgefährdet" hielt, aber eine "Fremdgefährdung" ausschließt.
Am selben Tag schreibt Cornelia N. auch an den Psychologen der Landesschulbehörde: "Ich finde die Situation unerträglich. Der Knabe saß am Montag wieder in dem Kurs. Die Kollegin hat den Schulleiter nochmals darauf angesprochen. Er hat dem Schüler dann gesagt, er müsse auf Wunsch der Kollegin den Kurs wechseln ... Der Schüler hat sich geweigert, den Kurs zu wechseln und der Schulleiter wird ihn da wohl belassen (!!)."
Auch der Schulleiter fühlt sich im Stich gelassen
Spätestens zu diesem Zeitpunkt - etwa zehn Monate vor dem Mord an Heike Block - ist die Schulbehörde darüber informiert, dass Heike Block von einem Schüler gestalkt wird. Und dass der Direktor sich schwer tut, Täter und Opfer zu trennen. Die Behörde reagiert offenbar nicht. Denn auch der Schulleiter fühlt sich in Stich gelassen. "Der Schulpsychologe wurde informiert", heißt es in einem vertraulichen Protokoll der Schule. "Dieser gab aber keine Rückmeldung an den Schulleiter, so dass Herr Sch. keine Handlungsaktivitäten ableiten konnte."
Anfang Februar beschwert sich Heike Block wieder beim Schulleiter über Gero S. "Info an Herrn Sch., dass ich mich mit Gero nicht mehr alleine treffen kann. Unverständnis von seiner Seite", notiert sie. Der Direktor erinnert sich nicht an das Gespräch. Das Landgericht Bremen stellte dagegen fest: Heike Block "äußerte nach diesem wiederholten Bedrängen durch den Angeklagten erneut ihre Bedenken gegen ihre Einzelbetreuung des Angeklagten gegenüber dem Schulleiter Sch., konnte ihren Wunsch, diese schulische Maßnahme aufgeben zu können, jedoch nicht durchsetzen."
Erst nachdem Heike Block
Ende Februar 2008
verbeamtet ist, besteht sie darauf, Gero S. nur im Beisein von Zeugen zu unterrichten.
Im Juni 2008
will Gero S. seine Therapie abbrechen. Und erst jetzt - acht Monate nachdem die Belästigungen angefangen haben - wird Gero S. ein neuer Kurs zugeteilt. Trotzdem belästigt er seine Lehrerin weiter, schreibt ihr sogar in den Ferien anzügliche Mails. Heike Block geht im
August 2008
zum Anwalt. Der rät ihr, eine Einstweilige Verfügung zu erwirken.
21. August 2008
: "Unverständnis von Herrn Sch., dass ich Gero verklagen will, da Gero schon genug um die Ohren hat", notiert Heike Block. Der Direktor bestreitet, Heike Block den Rechtsweg ausgeredet zu haben. Er führt "zum Teil wöchentlich" Gespräche mit Gero S. Der Schüler spielt die Kontaktversuche herunter.
März 2009
: Nach dem Amoklauf von Winnenden tauchen im Gymnasium Zettel auf, mit denen Lehrer beleidigt werden. Der Direktor wendet sich an den Sozialpsychiatrischen Dienst und ruft die Polizei an. Er fürchtet, dass Gero S. zum Amokläufer wird und will ihn in die Psychiatrie einweisen lassen. Obwohl sogar die Polizei eine "allgemeine Gefährdungslage" bejaht, lehnt das Amtsgericht die Einweisung ab. Gero S. muss das Gymnasium verlassen. Er installiert eine Videokamera an Autobahnabfahrten, um herauszufinden, in welchem Stadtteil seine Lehrerin lebt.
Im Juli 2009
rückt Gero S. zum Wehrdienst ein. Die Wehrverwaltung erfährt weder, dass die Polizei ihn als potenziellen Amokläufer im Visier hatte, noch von dem Ermittlungsverfahren, das inzwischen eingestellt worden ist.
25. November 2009
: Cornelia N. schreibt noch mal an die Landeschulbehörde, beschwert sich über Schulleiter Sch., weil er "seiner Fürsorgepflicht als nur unzulänglich nachgekommen" sei: "Ich beziehe mich dabei ganz konkret auf die Problematik des Schülers Gero S., der seit Herbst 2007 bis in das vergangene Schuljahr hinein eine Kollegin gestalkt und unter starken psychischen Druck gesetzt hat... Obwohl Herr Sch. von diesen Vorgängen wusste, hat er mich am 18.1.08 gebeten, den Schüler zu betreuen ..."
Gero S. verfolgt sie mit einem Peilsender
18. Dezember 2009: Gero S. klemmt auf dem Parkplatz des Gymnasiums einen Peilsender unter Heike Blocks Mini, fährt zu ihrer Wohnung und versteckt sich im Gebüsch. Gegen Mittag funkt der Peilsender Signale. Über Handy verfolgt Gero S., wie Heike Block ihren Wagen nach Hause steuert. Gegen 14.30 Uhr steigt die Lehrerin aus dem Auto. Minuten später ist sie tot.
Am 12. Januar 2010
"Nach Prüfung der Sachlage kann ich kein Fehlverhalten des Schulleiters Ihnen gegenüber feststellen", schreibt die Behörde Cornelia N.
Dass der Schulleiter die Lehrerin gebeten hat, Gero S. zu betreuen, ist selbst nach dem Mord an Heike Block aus Sicht der Behörde nicht zu beanstanden. "Schulen und Lehrkräfte sind im Rahmen des Bildungsauftrags verpflichtet, sich auch um so genannte ,schwierige' Schüler zu kümmern", erklärt die Behörde. Auch sonst verteidigt sie den Direktor: "Sein Handeln war bestimmt sowohl von der Fürsorge um die junge Lehrerin als auch von der Sorge um den Schüler, den Psychologen als suizidgefährdet eingeschätzt hatten. Das Gefährdungspotenzial des damaligen Schülers konnte zu diesem Zeitpunkt weder von den Fachleuten noch der Schule oder der Landesschulbehörde eingeschätzt werden."
Die Eltern von Heike Block haben jetzt an den niedersächsischen Kultusminister Bernd Althusmann (CDU) geschrieben. "Bei der Schulbehörde urteilen die Leute über das Verhalten des Direktors, die vorher genauso untätig waren wie er", sagt Winfried Block. Dann fügt er hinzu: "Eine Lehrerin kann man ersetzen. Eine Tochter niemals."