Es war kein Mord, was in jener Winternacht vom 4. auf den 5. Februar 2007 in der niedersächsischen 5600-Seelen-Gemeinde Sittensen geschah. Es war eine Hinrichtung. Die Täter betraten das in der belebten Innenstadt gelegene China-Restaurant "Lin Yue" gegen Mitternacht, die letzten Besucher waren erst vor wenigen Minuten gegangen. Sie bedrohten Restaurantbetreiber Danny Fan, seine Frau Anny und fünf Mitarbeiter, misshandelten sie, fesselten einige von ihnen mit Kabelbinder. Dann eröffneten sie das Feuer auf die Verängstigten, richteten einen nach dem anderen. Lautlos, schallgedämpft. Niemand in dem Haus bekam etwas mit.
Als der 47-jährige Ehemann einer der Angestellten gegen 0.30 Uhr seine Frau von der Arbeit abholen wollte, betrat er den Ort eines schrecklichen Blutbades: Sechs Tote lagen, teils gefesselt, in verschiedenen Räumen des Hauses verteilt - darunter auch seine Frau. Ein siebter Mann erlag später seinen schweren Verletzungen. Nur die zweijährige Tochter des Betreiberehepaares überlebte die Mordnacht unverletzt.
Ermordet für 5000 Euro, Handy und Notebooks
Das Leben in Sittensen kam zum Stillstand. Deutschland hielt den Atem an. Es war eines der schwersten Verbrechen der vergangenen Jahre. Und es war aus heiterem Himmel gekommen. Die schiere Kaltblütigkeit der Tat schien nahe zu legen, dass die organisierte Kriminalität, die chinesische oder vietnamesische Mafia womöglich, etwas mit dem Fall zu tun habe. Sowohl Polizei als auch Medien nahmen zunächst vornehmlich dieses Milieu ins Visier.
Es kam sehr schnell sehr anders. Nur wenige Stunden nach dem Sittenser Blutbad nahm die Polizei zwei 33 und 31 Jahre alte Vietnamesen fest. Die beiden waren bei einer routinemäßigen Polizeikontrolle an der A1 bei Wildeshausen (Kreis Oldenburg), keine hundert Kilometer vom Tatort, aufgefallen. Einer der beiden konnte sich nicht ausweisen. Beamte sahen sich den gemieteten Kleinwagen der Vietnamesen näher an und fanden neben einigen tausend Euro Bargeld eine Skizze - den Lageplan des Restaurants "Lin Yue". Die weiteren Ermittlungen ergaben: Die sieben Menschen, die bei dem Massaker in Sittensen ihr Leben ließen, waren einem simplen, kaltblütigen Raubmord zum Opfer gefallen. Die Beute: rund 5000 Euro sowie einige Handys und Notebooks.
Gab es noch weitere Komplizen?
Nur wenige Tage nach der Mordnacht hatte die Polizei kaum noch Zweifel über das Tatmotiv und daran, die Haupttäter des "Lin Yue"-Massakers gefasst zu haben. Unklar war allerdings, ob es noch weitere Komplizen für die Tat gab. Im Zentrum der Kripo-Ermittlungen stand ein ehemaliger Mitarbeiter des China-Restaurants, der dem ermordeten Wirt wegen seines plötzlichen Verschwindens suspekt gewesen war (stern.de berichtete).
Zeitweise befassten sich mehr als 100 Beamte der Sonderkommission "Lin Yue" mit dem Fall. Sie gingen über 1000 Spuren nach. Spezialisten von Bundes- und Landeskriminalamt untersuchten etwa 4000 Gegenstände, um weitere Indizien zu finden. Im Mai kam es zu einer dritten Festnahme: Eine Spezialeinheit der Polizei überwältigte einen 29-jährigen Vietnamesen aus Bremerhaven in seiner Wohnung.
Pistole und Schalldämpfer als zentrales Beweisstück
Zwei weitere Männer vietnamesischer Abstammung im Alter von 40 und 42 Jahren wurden im Juni festgenommen - einer der beiden soll als Aushilfskraft in dem Restaurant beschäftigt gewesen sein. Zudem wurde im Juni in einer Grünanlage im Bremer Stadtteil Huchting die mutmaßliche Tatwaffe, eine Pistole mit Schalldämpfer, gefunden. Damit hatte die Sonderkommission der Polizei ein zentrales Beweisstück, das zusammen mit der DNA-Analyse und Expertengutachten zu Faserspuren die Inhaftierten schwer belastete. In der Wohnung eines der vier Verdächtigen wurde Kabelbinder sichergestellt, produktionsgleich mit dem, mit dem in Sittensen die Opfer gefesselt worden waren. Einer der beiden Hauptverdächtigen hat bereits eine Beteiligung an dem Verbrechen eingeräumt - unklar ist allerdings seine konkrete Rolle.
Heute beginnt im Landgericht Stade der lange erwartete Prozess gegen die fünf tatverdächtigen Vietnamesen. Drei der Angeklagten werden des Mordes beschuldigt. Der vierte soll sie bei dem Überfall unterstützt haben. Der fünfte soll an den Planungen im Vorfeld beteiligt gewesen sein.
Was genau sich in jener Februarnacht im "Lin Yue" zugetragen hat und wer die tödlichen Schüsse abfeuerte, das soll in dem aufwendigen Indizienprozess ans Tageslicht gefördert werden. Eine andere Frage wird vielleicht für immer im Dunkeln bleiben: Was muss im Kopf eines Menschen passieren, damit er für ein bisschen Beute sieben Menschen misshandelt und eiskalt exekutiert?