Wo früher Alt und Jung fröhlich das Tanzbein schwangen, stapeln sich jetzt hüfthoch Kartons mit gespendeter Kleidung, Geschenke und Weihnachtsdekoration. Voller Wehmut schaut Norbert Raeder auf das Sammelsurium. „Seit neun Monaten herrscht hier Stillstand“, sagt der Gastwirt mit belegter Stimme. Früher wurde hier sechsmal pro Woche mit täglich wechselndem Programm gefeiert: Karaoke, Seniorentanz, Livemusik, Country und Western, Rock ‘n Roll, Disco. Viele Berliner kennen sein „Kastanienwäldchen“ am Franz-Neumann-Platz als Ort der Unbeschwertheit, verbrachten hier gern ihre Freizeit. Die Event-Gaststätte ist seit über 20 Jahren eine Institution in Berlin-Reinickendorf. Hier trafen sich 18-80-Jährige, die Armen und die weniger Armen.
Doch seit dem ersten Corona-Lockdown am 13. März 2020 sind die Lautsprecher verstummt und Norbert Raeder plagen massive Existenzängste. Schließlich hat er viel Geld in seine Kneipe gesteckt: eine professionelle Küche für 15.000 Euro eingebaut, dabei großen Ärger mit der Behörde gehabt, im Sommer eine Softeismaschine und einen neuen Kaffeeautomaten gekauft, eine Lounge-Terrasse auf dem Hof eingerichtet, Heizpilze angeschafft …
Die Ungerechtigkeit machte ihn stinksauer
Als nach dem ersten Lockdown Lockerungen eintraten, durften Restaurants und Cafés wieder öffnen, aber Kneipen mussten geschlossen bleiben. Da ging Nobert Raeder auf die Barrikaden. „Die Politik hat uns völlig vergessen!“, empört er sich. „Corona war und ist eine Bedrohung, für die Sicherheitsmaßnahmen habe ich Verständnis. Doch in der Pizzeria nebenan saßen die Menschen wieder zusammen, tranken viel – und bei uns, nur wenige Meter weiter, sollte die Ansteckungsgefahr höher sein?“
Daher organisierte er am 25. Mai eine Demonstration von 30 Berliner Kneipenwirten und klagte. „Kaum einer hat große Rücklagen, vor allem die älteren Gastwirte nicht, die sonst täglich hinterm Tresen stehen, um ihren Unterhalt und den ihrer Angestellten zu sichern. Wir wollten auf unsere katastrophale Lage aufmerksam machen“, erklärt Raeder, der ehemalige Bundesvorsitzende der Grauen Panther, der sich inzwischen als parteiloser Kommunalpolitiker für seinen Kiez einsetzt. Genützt hat es leider nichts. Aber ihm geht es auch darum, den Politikern und seinen Gästen zu zeigen: Wir sind noch da und lassen uns nicht unterkriegen!
Die ersten Eistüten sahen verboten aus
Not macht bekanntlich erfinderisch. Der 52-Jährige ist kein Typ, der jammert, sondern anpackt. Norbert Raeder denkt sich immer wieder neue Aktionen aus, um auf sich aufmerksam zu machen. So wurde er im Sommer zum Eisverkäufer und seine Event-Gaststätte zur Eisdiele. „Mir war klar, wenn ich mir nichts einfallen lasse, sind wir bald pleite“, sagt er. Da in seinen Räumen getanzt, gesungen und geschunkelt wird, dürfte er einer der letzten Gastwirte sein, die wieder öffnen. Von seinen letzten Ersparnissen leaste er eine Softeis-Maschine und brachte sich über Nacht bei, wie man Eis herstellt. „Unsere ersten Eis sahen verboten aus“, gibt er lachend zu. „Nach dem Motto: ,Darf es etwas mehr sein?‘ Aber unsere Stammgäste und Leute aus dem Viertel freuten sich, dass wir wieder da waren, und aßen kräftig Eis, um uns zu unterstützen.“
Engagement bis zum Umfallen
Norbert Raeder ist der „bunte Hund“ in Alt-Reinickendorf. Wer mit ihm die stark befahrene Residenzstraße vor dem „Kastanienwäldchen“ in Richtung Schäfersee überquert, erlebt, dass ihn ständig Leute grüßen. Kein Wunder, denn der Gastronom setzt sich seit vielen Jahren für die Ärmsten der Armen ein. Sein sozialpolitisches Handeln ist über die Grenzen Berlins hinaus bekannt und geschätzt – auch im künstlerischen Bereich: In seiner Musikkneipe hat er zahlreichen Künstlern die Möglichkeit gegeben, sich einem breiteren Publikum vorzustellen.
Nach der Schließung gelang es dem Wirt durch die 9.000-Euro-Förderung des Senats gerade noch, die Kosten für Miete und Löhne aufzubringen. Und dann kam ihm Kommissar Zufall zu Hilfe: Comedian Oliver Pocher erspielte in der RTL-Show „Denn sie wissen nicht, was passiert“ 40.000 Euro für das „Kastanienwäldchen“-Team. Er hatte im Internet gelesen, wie Norbert Raeder und seine Leute sich für Bedürftige einsetzen, und war beeindruckt. Daher spendete der Sender das Geld an die Projekte der Reinickendorfer. Der Gewinn wurde aufgeteilt, ein Teil für Miete und Gehälter genutzt, ein anderer für Mini-Häuser für Obdachlose. Ohne dieses Geld wäre das „Kastanienwäldchen“ wohl schon Geschichte.
Mit Einfallsreichtum gegen die Krise
Besonders Obdachlose aus seinem Kiez liegen Norbert Raeder am Herzen. Für sie hat er im Hof seines Lokals ein Zelt als Kleiderkammer eingerichtet. Im Sommer organisierte der „Kastanienwäldchen“-Chef einen Aktionstag, bei dem Obdachlose die Möglichkeit hatten, sich ärztlich untersuchen oder die Haare schneiden zu lassen. Prof. Andreas Umgelter, Chefarzt im Vivantes Humboldt-Klinikum klärte darüber auf, was während der Corona-Pandemie zu beachten ist. „Was sollen Menschen tun, die aufgefordert werden, zu Hause zu bleiben, aber gar keines haben?“, fragte der Arzt. „Allein das Händewaschen mit Seife ist für Leute, die auf der Straße leben, keine Selbstverständlichkeit.“ Prof. Umgelter bot den Obdachlosen an, sich auch ohne Krankenversicherung in seiner Klinik versorgen zu lassen.
Zusammen mit Geschäftspartnern, Freunden und Mitarbeitern des Sozialprojekts Teen Challenge e.V. verteilte Norbert Raeder Mineralwasser, Suppen, Fertiggerichte und Dosenprodukte an Bedürftige. Außerdem richtete er einen Gabenzaun für Obdachlose in der Nähe des „Kastanienwäldchens“ ein.
Für Kneipenbesitzer steht ihr Lebenswerk auf dem Spiel
„Wir Wirte sind ja auch Seelsorger“, sagt der 52-Jährige. „Gerade in diesen Zeiten.“ Aktuell bewirbt der umtriebige Wirt auf den sozialen Medien seinen kleinen „Weihnachtsmarkt to go“. „Leute kommt bei einem Spaziergang vorbei und unterstützt uns dabei, das Kastanienwäldchen und die Mitarbeiter zu halten“, fordert er darin auf. Drei seiner Angestellten stehen jeweils von 14 bis 20 Uhr an den Fenstern seiner Musikkneipe und verkaufen Crèpes, alkoholfreien Glühwein, Tee, heißen Kakao und Bratwürste, untermalt von Weihnachtsmusik vom Band. Selbstverständlich mit gehörigem Abstand. Außerdem können die Besucher einen Euro in eine Sonderkasse spenden, um auch den Obdachlosen von nahegelegenen Franz -Neumann-Platz eine Bratwurst zu spendieren.
Sogar ein Mann aus Canada kam extra vorbei, um hier Bratwurst zu essen. Er hatte Raeders Aktion im Internet gesehen und einen Besuch bei seinen Eltern in Berlin-Spandau mit einem Ausflug zum „Kastanienwäldchen“ verbunden. „Wir werden weiter alles versuchen, damit es unsere Event-Gastronomie ins nächste Jahr schafft“, verspricht Norbert Raeder.