Vor den Eingängen des Bremer Gesundheitsamtes stehen Bundeswehrsoldaten in Grüppchen zusammen und rauchen. Regelmäßige Pausen müssen sein bei ihrer anstrengenden Tätigkeit. Noch vor Kurzem ächzte das Gesundheitsamt unter der Corona-Pandemie mit steigenden Infektionszahlen, völlig überlasteten Mitarbeitern, die sieben Tage pro Woche im Einsatz waren und Überstunden ohne Ende schoben. Daher bekam das Amt für die Nachverfolgung von Kontakten bei Infizierten Hilfe von der Bundeswehr in Form von 27 Soldaten.
O Schreck, das Gesundheitsamt ruft an!
Zu weiteren 60 Unterstützern – im Fachjargon Containment-Scouts genannt – gehört auch Carla Rassmus. Die 21-Jährige studiert an der Bremer Hochschule seit fünf Semestern Global Management. „Ich jobbe während meines Studiums, und als der Aufruf vom Gesundheitsamt kam, habe ich mich gleich beworben. Ich wollte einfach etwas Sinnvolles tun“, sagt sie. „Ich finde es gut, wenn sich Menschen für andere einsetzen.“
Seit Juli sitzt sie 20 Stunden pro Woche am Telefon des Gesundheitsamts, macht Kontaktpersonen eines Infizierten ausfindig und bespricht mit ihnen Verhaltensregeln. Wie eine Detektivin sollen sie und die anderen neun KollegInnen im Team jedem neuen Corona-Fall nachspüren und helfen, die weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern, also Ketten herausfinden, wer wen angesteckt hat. „Wir Scouts können in allen möglichen Bereichen eingesetzt werden, in der Corona Ambulanz, an der Corona-Hotline oder in der Nachverfolgung von Kontakten. Zuerst habe ich an der Hotline gearbeitet“, erzählt sie. „Die meisten Leute haben sich nach einem Auslandsaufenthalt in einem Risikoland gemeldet und wollten wissen, wo sie sich testen lassen können.“
Mit dem Hörer dem Corona-Virus auf der Spur
Seit September ruft Carla positiv getestete Bremer Bürger an und geht mit ihnen einen Fragebogen durch. Nach Feststellung der Identität fragt sie nach Symptomen. Diese sind wichtig für die Kontaktnachverfolgung. „Wenn die Menschen bereits Symptome haben, gehen wir 48 Stunden zurück“, erklärt Carla Rassmus. „Wenn sie keine haben, sind es sieben Tage seit dem Testdatum. Das sind nämlich die Tage, an denen sie schon ansteckend waren. Für beide Zeiträume ermitteln wir dann die Kontakte der infizierten Personen.“
Haben Menschen länger als 15 Minuten ohne Einhaltung des Mindestabstandes Kontakt zu einem Infizierten gehabt, gehören sie zur sogenannten Kontaktgruppe 1 und müssen für 14 Tage vorsorglich in Quarantäne.
Wie werden die Kontakte von Corona-Infizierten zurückverfolgt?
Sich an alle Kontakte in einer Woche zu erinnern ist schwer. Da muss man erst einmal nachdenken. Diese Zeit gibt Carla den Leuten auch. Vieles geht aber auch verloren: Kurze Begegnungen beim Einkaufen vergisst man schnell, zum Beispiel, wenn man eine Nachbarin trifft, kurz quatscht und dann weitergeht.
Nachbohren ist anstrengend und unangenehm. „Oft denken Angerufene, ich will ihnen etwas Böses“, berichtet die Studentin. „Wenn ich dann frage: ,Hatten Sie Kontakte?‘, sagen sie nein, weil sie fürchten, sonst Ärger zu bekommen. Viele Infizierte wollen nicht, dass ihre Kontaktpersonen in Quarantäne müssen. Schließlich will niemand der Superspreader sein. Dabei erfahren die Leute, die wir anrufen, gar nicht, mit wem sie Kontakt hatten. Das dürfen wir ihnen auf keinen Fall sagen.“
Für Lügen hat sie ein Gespür entwickelt
Nicht selten wird Carla angelogen. Mittlerweile hat sie ein gutes Gespür dafür entwickelt. „Dann kann ich nur noch mal anrufen und nachhaken, aber wenn die Leute dabei bleiben, kann ich nichts machen“, seufzt sie. „Manche melden sich später zurück und gestehen: ,Mir ist doch noch was eingefallen …‘“
Alle Kontakte werden in eine Datenbank eingetragen mit Namen, Geburtsdatum, Telefonnummer und Adresse, um Anschreiben verschicken zu können.
Die Dauer der Gespräche ist ganz unterschiedlich. Zwischen 15 Minuten und drei Stunden oder auch zwei Tage, wenn Carla länger mit einem Fall beschäftigt ist und mehrmals nachhaken muss. Die Zahl der Fälle, die sie pro Tag bearbeitet, variiert zwischen zwei oder drei bis zu acht oder neun.
„Es gibt viele Bürger, die sehr frustriert sind, und erst mal ihrem ganzen Ärger Luft machen, wenn ich anrufe“, sagt sie. Dann heißt es, ruhig und freundlich zu bleiben. Das hat sie in der Schulung gelernt. Sie zeigt aber auch Verständnis: „Es kommt vor, dass Leute zweimal hintereinander in Quarantäne müssen, zum Beispiel wenn in einer größeren Familie jemand Corona hat. Dann müssen alle zu Hause bleiben. Am Ende werden noch einmal alle Familienmitglieder getestet. Gibt es plötzlich eine Neuinfektion, müssen alle erneut in Quarantäne. Das ist natürlich total frustrierend.“
Carla wurde noch nicht schwer beleidigt. Wenn die Leute schimpfen, meist über die Situation. „Ich nehme auch nichts persönlich. Die Betroffenen sind einfach genervt.“
„Manche Leute leugnen alle Kontakte“
Für so eine Aufgabe kann man nicht jeden ans Telefon setzen. „Wir Containment-Scouts wurden eine Woche geschult und eingearbeitet. Es gab verschiedene Vorträge vom Bürgertelefon. Darin wurden uns die unterschiedlichen Telefontypen vorgestellt. Wir haben gelernt, mit schwierigen Situationen umzugehen“, erklärt Carla Rassmus. „Manche Leute regen sich total auf und leugnen alle Kontakte. Mit denen kann man kein normales Gespräch führen. Solche Fälle geben wir ans Ordnungsamt weiter, sodass die Kollegen dann dort vorbeifahren und die Sache klären können. Ebenfalls ganz wichtig ist das Thema Datenschutz: Wir dürfen keine Namen an Außenstehende weitergeben.“
Beruhigen, beschwichtigen, trösten, nachhaken – der Job kostet Nerven. Manchmal ist es auch gar nicht möglich zu kommunizieren. „Wir haben zwar einige Mitarbeiter hier, die verschiedene Sprachen sprechen“, weiß Carla. „Aber wenn niemand übersetzen kann, muss auch jemand vom Ordnungsamt hinfahren.“ Sie selbst spricht Deutsch oder Englisch mit den Angerufenen.
Einige Telefonate beschäftigen Carla noch lange
Wie belastend sind diese Gespräche? „Zum Teil muss ich auch zu Hause noch darüber nachdenken“, gibt die 21-Jährige zu. „Besonders wenn ich merke, dass die Menschen total am Ende sind. Ich musste zum Beispiel mal jemanden anrufen, der zuvor etwas Tragisches innerhalb seiner Familie erlebt hatte, und dann kam Corona noch obendrauf. Dieser Mann war verzweifelt und mit der Situation komplett überfordert. Solche Schicksale beschäftigen mich schon und dann schlafe ich nicht gut.“
Supervision für die Containment-Scouts gibt es nicht. Nach einem schwierigen Telefonat kann Carla mit der Schichtleitung oder in Pausen mit Kolleginnen sprechen. Das entlastet.
Sie erlebt aber auch viele positive Reaktionen, wenn sich jemand bedankt und sie für ihren Einsatz lobt. „Die meisten Leute reagieren verständnisvoll und geben bereitwillig Auskunft“, hat Carla erfahren.
Ein Leitfaden mit Fragen hilft den Corona-Scouts während des Telefonats. Vor allem die Frage nach den Symptomen ist wichtig. „Die meisten Leute denken, sie haben keine Symptome, weil sie noch nicht im Krankenhaus liegen und es ihnen noch nicht richtig schlecht geht“, sagt die 21-Jährige. „Dann muss ich zweimal nachfragen, denn Schlafstörungen, Schlappheit, Halskratzen oder Kopfschmerzen können erste Anzeichen sein.“
Außerdem fragt sie nach dem Arbeitgeber, der Schule oder wo die Leute sich sonst aufhalten, will wissen, ob sie bereits Kontakt zu jemandem hatten, der ebenfalls positiv getestet wurde. Manchmal gibt es in einem Haushalt mehrere betroffene Personen. Dann erkundigt sie sich, ob die Person Grunderkrankungen hat, von einem Pflegedienst betreut wird oder regelmäßig zum Arzt geht. Sie möchte wissen, was die Person in den letzten 14 Tagen gemacht hat. Ob sie viele öffentliche Verkehrsmittel benutzt oder an irgendwelchen Veranstaltungen teilgenommen hat: Gottesdienste, Familienfeiern, Kino, Restaurant, Kneipe, Fußball, Fitnessstudio oder einen Besuch im Krankenhaus gemacht hat.
Bei 75 Prozent der Corona-Ansteckungen weiß man nicht mehr, woher sie kommen
Danach geht es um die Kontakte. Oft ergibt sich dann schon ein Hinweis: „Wenn jemand zum Beispiel sagt, ich war im Fitnessstudio, dann rufe ich dort an und sage: ,Es war jemand bei Ihnen, der positiv getestet wurde‘“, erklärt Carla Rassmus ihre Arbeit.
Anschließend erkundigt sie sich nach dem Hygienekonzept, fragt wie weit die Geräte voneinander entfernt stehen und wie groß die Räumlichkeit ist. Hat das Training in einem kleinen Raum mit zu vielen Menschen stattgefunden, spricht sie mit den festangestellten Mitarbeitern des Gesundheitsamts, ob alle Sportler in Quarantäne müssen oder ob es gegebenenfalls Konsequenzen für das Studio hat. „Im Vordergrund steht aber immer das Bestreben, den Angerufenen zu helfen und niemanden anzuschwärzen“, betont Carla. Was ihr Sorgen macht: „Es kommen immer mehr Fälle von Bremern rein, die sehr vorsichtig gewesen sind und keine Ahnung haben, wo sie infiziert wurden. Da können wir dann wenig machen.“
Ausgleich findet Carla Rassmus beim Sport. Sie liebt Fitness – bei gutem Wetter macht sie ihre Übungen auch gern im Freien oder fährt Fahrrad. Bis Ende Dezember war die junge Frau noch im Gesundheitsamt tätig, danach haben andere ihre verantwortungsvolle Aufgabe wahr genommen.