Bericht von Mathias Schneider stern-Reporter in Paris: Ein Spiel auf Leben und Tod

Von Mathias Schneider, Paris
Seit 15 Jahren berichte ich von der Nationalmannschaft. Auch jetzt aus Paris. Von einem Spiel, das zum Albtraum wurde.

Um 1.22 fällt die Tür meines Hotelzimmers hinter mir ins Schloss. Doch nichts ist sicher. Nichts ist vorbei. Die Bilder, sie sind noch in meinem Kopf. Vor allem aber ist da dieses flaue Gefühl, das ich bisher nicht kannte, dieses Gefühl der Ungeschütztheit, jede Sekunde. Auch jetzt noch. Im zehnten Arrondissement, keinen Kilometer von einem der Orte entfernt, an dem eines dieser schauderhaften Verbrechen verübt wurde, liegt meine Unterkunft. Es ist ein Ibis-Hotel, die Eingangstür ist verglast. Sie steht offen, als ich zurück komme. Davor rauchen ein paar junge Burschen. Die Stimmung im Foyer ist verstörend entspannt. Als geschehe all das um uns herum auf einem anderen Planeten.

Entrückt im eigenen Chaos

Der Rückweg aus dem Stade de France verlief reibungslos - und doch bekam ich ein Gefühl, was es heißt, wenn eine Stadt, ein ganzes Land, eiskalt erwischt wird. Polizisten in Kampfanzügen standen vor dem Stadion herum, doch sie wirkten weder kundig noch in Alarmbereitschaft. Als ich sie fragte, wie ich sicher ins Zentrum gelangen könne, zuckten sie nur mit den Schultern. Am Ende nahm ich die S-Bahn, auch wenn es verrückt war, aber eine andere Lösung gab es nicht, um endlich den öffentlichen Raum zu verlassen. Es war dann eine ruhige Fahrt, nur eine Station. Die Straßen blieben weniger bevölkert als sonst um diese Zeit. Nur jene versammelten sich noch dort, die auf dem Heimweg waren wie ich. Oder wenig zu verlieren haben. Immerhin, die lähmende Panik, sie war jetzt weg.  Und doch wirkten die Franzosen merkwürdig entrückt im eigenen Chaos. Ich blickte in Gesichter, die seltsam teilnahmslos umherschauten. Keine Eile, kein Stress. Als sei all dies – normal.Das Spiel. Es beginnt pünktlich und schleppt sich schließlich gemächlich dahin. Zäh. Novemberfußball. Es passiert nicht viel, bis zu jener 33. Minute, als eine mächtige Detonation hinter der Gegengerade selbst die Pressetribüne für einen kurzen Moment erzittern lässt. Zu laut für einen Böller. Der erste Anschlag, wie ich irgendwann in der zweiten Halbzeit erfahre, doch noch verflüchtigt sich mein Unwohlsein nach wenigen Sekunden wieder. Es sind 70.000 Franzosen, die mir meine Sorge nehmen. Keine Unruhe im Publikum. Kein Murren. Stattdessen wilder Jubel, als in der 45. Minute doch das 1:0 fällt.

Es liegt der Stoff für eine Panik in der Luft

In der zweiten Halbzeit dann die ersten Eilmeldungen. Steinmeier abgereist, Hollande evakuiert. Tote hinter der Gegengeraden. Ein Attentat. Es dauert, bis die Botschaft einsinkt. Das Spiel, es läuft weiter. Die Stimmung ist gedämpft, doch keinesfalls von Entsetzen geprägt. Dabei muss sich die Botschaft längst herumgesprochen haben. Doch man wird den Verdacht nicht los, dass es nicht wenige gibt in diesem Land, die gegen Gewalt aller Art abgestumpft sind. Oder den Einbruch der Realität in ihre digitale Welt schlicht ignorieren. Zu abstrakt. Als das 2:0 fällt, jubelt der Torschütze Gignac noch, er läuft extra zur Auswechselbank, klatscht sich mit jedem Auswechselspieler ab. Verstörend, auch das. Und doch richtig, wenn auch wohl aus falschen Motiven. Es liegt jetzt der Stoff für eine Panik in der Luft, schon deshalb muss das Spiel weitergehen.

Irgendwann ist dann Schluss. Der große Jubel bleibt aus. Als man das Stadion direkt verlassen will, bricht plötzlich vor den Toren so etwas wie Panik aus. Zumindest scheint es so. "Alle wieder hinein", schreit ein Ordner. Blanke Angst in den Gesichtern der Kollegen. Es geht zurück auf die Pressetribüne. Der Innenraum ist mittlerweile gefüllt mit Menschen. Aus Sicherheitsgründen, vermute ich, doch keine Durchsagen. Eine Dreiviertelstunde werde ich warten. Dann verlasse ich mit den Kollegen doch den Ort des Schreckens. Von der Mannschaft keine Spur. Dafür Informationsfetzen über immer mehr Tote, eine Geiselnahme. Entsetzen, in jedem Gesicht. Doch alles geht gut.

Nichts geht gut. 

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